Kraft statt Kasse: Wie Hanteltraining die Pflegeversicherung retten könnte
In der Rente fährt man nur noch mit dem Auto zum Kuchenessen und geht bald am Stock. Mit dieser Vorstellung vom Altwerden bin ich aufgewachsen. Ebenso mit Sprüchen wie „Sport ist Mord“ und „In meinem Alter geht das nicht mehr“. Immer bequem und, was die körperliche Aktivität anbelangt, sehr zurückhaltend, so habe ich den Großteil der Menschen über 70 stets wahrgenommen. Mit den Enkeln auf dem Fußboden rangeln – kaum vorstellbar. Zuhause einen hängenden Griff über dem Bett, um sich morgens aufzurichten – schon eher.
Dass die Anzahl der Pflegebedürftigen hierzulande weiter steigen wird, gilt als manifestiert. Quasi alle Studien kommen zu diesem Ergebnis. „Ist doch klar, wegen der demografischen Entwicklung und der steigenden Lebenserwartung“, werden jetzt viele sagen. Schon zu Schulzeiten haben uns die Lehrkräfte mit der Demografie-Zwiebel vor der Nase herumgewedelt. Der mittlere, dicke Teil dieser Zwiebel geht nun nach und nach in Rente, wird älter und ein nahezu feststehender Anteil davon wird zum Pflegefall, so die Prognose. Früher oder später erwischt es dann fast jeden, bei den über 90-Jährigen etwa drei von vier. Klar, denn wer alt wird, baut permanent ab und schafft immer weniger aus eigener Kraft, so die Annahme.
Entsprechend diskutieren wir gerade wieder darüber, wie wir die Pflegeversicherung in Zukunft überhaupt noch finanzieren können, angesichts der heranrollenden Flutwelle an Pflegefällen. Aber muss das alles zwingend so kommen?
Vielleicht gehen wir gar nicht am Stock
Was wäre, wenn man sich trotz voranschreitendem Alter die Fähigkeiten erhalten könnte, sich selbst anzuziehen, zu waschen und die Einkäufe in den dritten Stock hochzutragen? Wenn in die Knie gehen, um etwas vom Boden aufzuheben selbstverständlich ist und eine zehn Kilometer lange Wanderung nicht utopisch erscheint, sondern Glücksgefühle und eine tolle Zeit mit Freunden beschert?
All das ist möglich, wenn wir Krafttraining und Beweglichkeitsübungen in unseren Alltag integrieren. Das heißt mindestens drei Mal pro Woche, besser noch fünf Mal und auch sonst aktiv leben. Dazu gibt es tonnenweise Studienmaterial.
In der Methodik seiner Pflegevorausberechnung erklärt das Statistische Bundesamt, dass diese auf einer Reihe von unveränderten Bedingungen basiert. Dazu zählen neben den Einflüssen der Lebenserwartung, Medizin-Technik, rechtlichen Rahmenbedingungen und anderen auch die gesellschaftlichen Anreiz- und die individuellen Entscheidungsstrukturen. Was wäre also, wenn wir es gesellschaftlich etablieren könnten, fit, beweglich und gesund zu bleiben? Genau, die Anzahl der Pflegebedürftigen und somit die Kosten für die Sozialversicherung würden sinken.
„Use it or lose it“ heißt dabei das Credo. Wer seinem Körper durch regelmäßige Übungen signalisiert, dass er die Fähigkeiten benötigt, etwas Schweres über seinen Kopf zu heben oder mit Gewicht beladen in die Knie zu gehen und wieder aufzustehen, wird sich diese Fähigkeiten antrainieren und erhalten. Das gleiche gilt für diverse Dehnübungen, die Bänder und Gelenke fitmachen für ruckartige Bewegungen, wie das Auffangen einer herunterfallenden Tasse oder das Sich-Wieder-Fangen auf einem rutschigen Gehweg.
Muskelmasse und Fitness statt Demenz und Verschleiß
Handwerker und andere Menschen mit körperlich anstrengenden Jobs sind davon nicht ausgenommen. Wer täglich stundenlang körperlich arbeiten soll, dem hilft ein starkes Muskelkorsett, diese Tätigkeit lange schmerzfrei und mit weniger Verschleiß auszuüben. Auch dazu gibt es längst klare Erkenntnisse. Einige Studien besagen sogar, dass Muskelmasse und Fitness der Entwicklung von Demenz entgegenwirken. Natürlich können Kraft- und Beweglichkeitstraining nicht alle Krankheiten und Verletzungen heilen – das Leiden der betroffenen Menschen aber oft verbessern. Und selbst wer erst im hohen Alter damit anfängt, kann laufend Verbesserungen erzielen.
Vor dem Hintergrund all dieser Benefits erscheint es beinahe dumm, wenn aus bestimmten Ecken immer nur nach längeren Arbeitszeiten geschrien wird und Begriffe wie Work-Life-Balance oder der Wunsch nach Teilzeitarbeit verteufelt werden. Vielmehr müssen wir es schaffen, unserer Gesundheit und Fitness einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert zu geben. Es muss neben der Arbeit einfach die Zeit dafür da sein. So klappt es dann auch mit der Pflegeversicherung.


