pro/contra: Bringt die schnelle Zinswende für die Lebensversicherer kurzfristig positive Effekte?

Verbessert der allgemeine Zinsanstieg kurzfristig die finanzielle Lage der deutschen Lebensversicherer? Darüber diskutieren für procontra der Ökonom und wissenschaftliche Beirat des Bundes der Versicherten, Prof. Dr. Hartmut Walz, und Dr. Herbert Schneidemann, Vorsitzender der Deutschen Aktuarvereinigung.

12:06 Uhr | 09. Juni | 2022

Prof. Dr. Hartmut Walz (wissenschaftlicher Beirat im Bund der Versicherten): Contra

Die aktuellen Veränderungen der Zinsen im Euroraum bringen den Versicherern in Wahrheit keine positiven Kurzfrist-Effekte. Allerdings auch keine negativen. Sondern sie sind weitgehend irrelevant für die Versicherer.

Um diese Einschätzung zu verstehen, muss man sich zunächst klarmachen, dass die „schnelle Zinswende“ eher ein zaghaftes „Zinswendchen“ ist, das zusätzlich noch reichlich verspätet kommt. Natürlich bewirken höhere Zinsen ein Abschmelzen stiller Reserven und bei dem einen oder anderen Versicherer auch den Aufbau stiller Lasten. Diese Wirkungen sind jedoch im Gesamtzusammenhang nicht bedrohlich stark und werden zum Teil durch den gegenläufigen Effekt höherer Erträge im Neuanlagegeschäft kompensiert.

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Fortsetzung des Zinsanstiegs gilt als unwahrscheinlich

Und dass sich der Zinsanstieg für Euro-Staatsanleihen noch kräftig fortsetzt, wird von der überwiegenden Mehrheit führender Makro-Ökonomen als extrem unwahrscheinlich erachtet. Vor dem Hintergrund extrem hoher Staatsschulden würden starke Zinserhöhungen nämlich schnell zum Bankrott mancher EU-Mitglieder und damit zu einem Auseinanderbrechen der Gemeinschaftswährung führen.

Bei einer strikt nominellen Sichtweise und dem Szenario nur moderater Zinssteigerungen ist die Welt der Versicherer also in bester Ordnung, zumal sich mit wachsendem Zeithorizont die positiven Wirkungen einer etwas rentabler werdenden Wiederanlage verstärken. Und parallel dazu nehmen etwaige stille Lasten mit sinkender Duration (durchschnittlicher Kapitalbindungsdauer) niedrig verzinster Anleihebestände in den Kapitalanlageportefeuilles der Gesellschaften ab.

Dummerweise ist die ökonomisch korrekte Sicht der Versicherungskunden eine ganz andere und darf sich nicht an nominellen Zinsen ausrichten. Sie muss sich vielmehr zwingend an dem erzielbaren Realzins orientieren. Und da während des kleinen „Zinswendchens“ die Verbraucherpreisinflation um ein mehrfaches des Zinsanstiegs zugelegt hat, erleben die Versicherungssparer aktuell Realzinsverluste, in bisher unbekanntem Ausmaß. Bei einem aktuellen Kaufkraft-Minus von knapp acht Prozent sinkt der reale Wert der in kapitalbildenden Versicherungsprodukten angelegten Kundengelder schon binnen Jahresfrist um zirka fünf Prozent. An dieser Stelle zeigt sich einmal mehr die Wertlosigkeit nomineller Garantieversprechen. Mit anderen Worten: während die Lage der Versicherer recht gemütlich ist, sehen sich deren Kunden einer zunehmend bedrohlichen Entwicklung durch die reale Entwertung ihrer Ansprüche gegenüber. Allmählich, jedoch wieder einmal zu spät, verstehen die Menschen, wer die Rechnung der Geldmengenausweitung und einer schönen neuen Geldpolitik (= Modern Monetary Theory) bezahlt.

Seite 1: Versicherungskunden sehen sich einer realen Entwertung ihrer Ansprüche gegenüberSeite 2: Versicherungsnehmer werden in Form höherer Kapitalerträge profitieren

Dr. Herbert Schneidemann (Vorsitzender der Deutschen Aktuarvereinigung): Pro

Seit einigen Monaten erleben wir an den Finanzmärkten eine seit Jahren nicht mehr gesehene Entwicklung: steigende Zinsen. Getrieben vom vorsichtigen Einstieg der großen Notenbanken in den Ausstieg aus der ultralockeren Zinspolitik und damit der Ära des superbilligen Geldes klettern die Renditen auch von deutschen 10-jährigen Staatsanleihen langsam Richtung ein Prozent. Und der für die Versicherungen wichtige zehnjährige Euro-SWAP bewegt sich zum Zeitpunkt, als diese Zeilen entstanden, zwischen 1,5 und 2,0 Prozent. Wohlgemerkt im positiven Bereich – vor Jahresfrist sah das alles noch ganz anders aus. Für die Versicherungen und damit schlussendlich auch für die Kundinnen und Kunden sind das gute Nachrichten.

Alarmismus können die Aktuare nicht teilen

Vor diesem Hintergrund wirken auch auf mich die Stimmen von einigen Ökonomen und Wissenschaftlern in großen Medien irritierend, die die angeblichen Schattenseiten des Zinsanstiegs in den Fokus rücken und den Versicherungen bereits großen Abschreibungsbedarf auf ihre Wertpapiere attestieren. Aus aktuarieller Sicht können wir diesen Alarmismus nicht teilen. Richtig ist, die Kapitalanlage der deutschen Versicherer besteht zu 80 bis 85 Prozent weiterhin aus festverzinslichen Wertpapieren. In Zeiten fallender oder sogar negativer Zinsen haben diese Kapitalanlagen große „Stille Reserven“ hervorgebracht. Diese werden jetzt im Zinsanstieg kleiner und haben sich in den meisten Häusern wahrscheinlich bereits in „Stille Lasten“ gewandelt.

Aber beides sind reine Momentaufnahmen, die für die Versicherungsnehmenden keine Konsequenzen haben. Denn üblicherweise halten die Versicherungen diese Wertpapiere bis zur Endfälligkeit, wodurch sich Stille Reserven oder Stille Lasten von allein auflösen. Selbst die US-amerikanische FED hat nach eigener Aussage inzwischen Stille Lasten von 330 Milliarden Dollar und sie wird nicht unruhig. Das unterscheidet das Geschäftsmodell der Versicherer elementar vom dem Kurzfristansatz der Geschäftsbanken, die den Zinsanstieg sicherlich auch mit einem kleinen weinenden Auge betrachten.

Anders verhält es sich in den Kapitalanlageabteilungen der Versicherungen. Aktuell können Neu- und Wiederanlagen deutlich rentabler als in der Vergangenheit getätigt werden. Dies wird die Ertragskraft der Kapitalanlagenportfolios der Versicherer mit der Zeit stärken. Zudem zeigen die DAV-Berechnungen: Sollten sich die Zinsen auf dem heutigen Niveau stabilisieren, wird die seit 2011 zu stellende Zinszusatzreserve im Branchenschnitt Ende 2021 mit knapp 100 Milliarden Euro ihren Höchststand erreicht haben und in den kommenden Jahren sogar leicht fallen. Von beiden Entwicklungen werden die Versicherungsnehmenden unseres Erachtens mittel- bis langfristig in Form höherer Kapitalerträge profitieren. Für mich sind das ziemlich gute Aussichten.

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