Europa-Aktien: Die bessere Alternative zum überhitzten US-Markt?

Bei Fonds und Aktien aus Europa scheiden sich die Geister: Die einen meiden sie weiterhin, die anderen sehen in ihnen die bessere Alternative zum überhitzten US-Markt. Experten verraten, wo die Chancen und Risiken für Europa-Titel liegen und welche Segmente im Jahr 2022 besonders gut performen dürften.

09:01 Uhr | 26. Januar | 2022

Aktien aus Europa haben in den vergangenen Jahren eher eine Nebenrolle gespielt. Verglichen mit den US-Börsen, denen vor allem Growth-Werte wie die Tech-Giganten Apple, Alphabet, Amazon, Facebook und Microsoft ein Allzeithoch nach dem nächsten bescherten, konnten Europa-Werte bislang nicht mithalten. Schon im vergangenen Jahr rechneten Branchenexperten zwar mit einer Wende: Value-Aktien würden den Wachstumswerten den Kampf ansagen und die Zeit der europäischen Aktien sei damit gekommen, so die Annahme vieler. Doch der Index Stoxx Europe 600 konnte den US-Index S&P 500 im vergangenen Jahr wieder nicht schlagen – auch wenn sich die Performances der beiden Indices auf Jahressicht immerhin angenähert haben.

Dieses Jahr nun ist es aber wirklich so weit, sagen viele Branchenprofis, die goldene Zeit der europäischen Aktien sei gekommen. Laut einer Bloomberg-Umfrage rechnen Analysten im Schnitt bis Ende 2022 beim Stoxx Europe 600 mit einem Plus von 5,2 Prozent auf 511 Indexpunkte gegenüber dem Jahresanfang. Doch was soll in diesem Jahr anders sein, wo Europa-Aktien lange Zeit nur die zweite Geige gespielt haben? Wer seinen Kunden nun rät, Europa-Titel im Portfolio überzugewichten, muss das nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre immerhin gut begründen können. Für die erwartete Aufholjagd nennen Branchenprofis plausible Argumente.

Europäische Aktien sind günstiger

Allen voran steht der Bewertungsvorteil der europäischen Unternehmen gegenüber ihrer US-Pendants. Mit einem durchschnittlichen Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) beim Stoxx Europe 600 von rund 15 sind europäische Titel im Schnitt um einiges günstiger zu haben als US-Titel: Das durchschnittliche KGV für den S&P 500 liegt bei 24. Der technologielastige US-Markt ist bereits überhitzt, warnen einige Finanzprofis. „Aus unserer Sicht weisen insbesondere Technologie- und Internetaktien Merkmale einer Bewertungsblase auf – ganz ähnlich wie dies schon zur Jahrtausendwende der Fall war“, sagt Roland Koster, Portfoliomanager bei der Züricher Kantonalbank. Er geht davon aus, dass Anleger daher nun ein wachsames Auge auf Bewertungen legen werden. „Dies sollte den europäischen Aktienmärkten mit dem deutlich günstigeren Bewertungsniveau helfen, den US-Markt zu übertreffen.“

Auch die bislang immer noch lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) dürfte europäischen Aktien einen Vorteil verschaffen. Während die US-Notenbank Fed bereits drei Zinserhöhungen für 2022 angekündigt hat und ihr Anleihekaufprogramm im Frühjahr auslaufen lässt, hält sich die EZB noch mit einer Straffung zurück. Zwar rechnen Marktteilnehmer damit, dass die EZB dem US-Vorbild angesichts der wachsenden Inflation früher oder später folgen wird, zum Teil dürften diese erwarteten Zinserhöhungen allerdings bereits in den Kursen eingepreist sein. Leichte Zinserhöhungen dürften außerdem Unternehmen aus der Finanzwirtschaft zuträglich sein, Banken können ihre Kredite in einem solchen Szenario neu bewerten. Das sind wiederum gute Nachrichten für europäische Titel: Die Finanzbranche ist eines der am stärksten vertretenen Segmente.

Die Wirtschaft im Aufwind

Ein weiteres Argument, das Analysten für eine Aufholjagd europäischer Titel in diesem Jahr anführen, ist die wirtschaftliche Erholung nach der Corona-Pandemie. Einerseits ist sie angeregt durch die Fiskalpolitik. „In den USA fallen 2022 milliardenschwere Stimulierungsmaßnahmen weg. Im Vergleich hierzu beginnen in Europa die Investitionspakete jetzt erst ihre Wirkung zu entfalten“, sagt Koster. Gemeint ist etwa der 800 Milliarden Euro schwere Europäische Aufbauplan ebenso wie der Siebenjahreshaushalt im Umfang von 1,8 Billionen Euro für den EU Green Deal.

Laut einer Prognose der Capital Group dürfte das reale Bruttoinlandsprodukt europäischer Volkswirtschaften wie Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und des Vereinigten Königreichs bis Ende 2023 um fünf bis zehn Prozentpunkte wachsen. Eine Bloomberg-Hochrechnung geht in der gesamten Euro-Zone von einem Wirtschaftswachstum um 4,2 Prozent aus, in den USA dagegen von nur 3,9 Prozent.

Von einer post-pandemischen Erholung würde der europäische Aktienmarkt vor allem deshalb so stark profitieren, weil die Unternehmenslandschaft im europäischen Index von konjunktursensiblen Sektoren geprägt ist. Dazu zählen etwa zyklische Konsumgüter, Industrie, Rohstoffe und Chemie. Sie dürften in diesem Jahr zu den großen Gewinnern einer wachsenden Wirtschaft zählen. In puncto Industrie gilt das vor allem für Hersteller von Maschinen, Werkzeugen und Anlagen, sagt Martin Skanberg, Fondsmanager für europäische Aktien beim Asset Manager Schroders. Auch Industrieunternehmen mit Technologien für grüne Energie attestiert der Experte Wachstumspotenzial. „Unternehmen, die in Nischen wie Verfahrenstechnik oder Wärmeübertragung und -trennung tätig sind, können in neue Segmente wie die Produktion von grünem Wasserstoff expandieren.“

Auch Koster von der Züricher Kantonalbank sieht in klimafreundlicher Energie ein profitables Anlagethema, darunter Investitionen in die Stromnetze zur Verbesserung der Versorgungssicherheit. „Unternehmen wie Vestas Wind, Orsted, Siemens oder Schneider Electric profitieren beispielsweise von diesen Trends.“ In der Telekommunikationsbranche sieht er ebenfalls spannende Renditechancen. „Mit dem Wiederaufbaufonds möchte die EU den Ausbau von Glasfaser- und 5G-Kommunikationsnetzen fördern. Neben Nokia und Ericsson könnten da auch die deutlich zurückgebliebenen Telekommunikationswerte eine Aufwertung erfahren.“

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Risiken einkalkulieren

All diese Prognosen setzen voraus, dass das aktuelle Winterloch, geprägt von Lieferengpässen, Sorgen um die Omikron-Variante des Coronavirus und steigenden Energiepreisen, bald überwunden ist. Sicher ist das natürlich nicht – so sind die Märkte nach wie vor von vielen Unsicherheiten geprägt. Berater sollten ihre Kunden in jedem Fall auf ein volatiles Jahr einstellen. Neben den Sorgen rund um die Pandemie, sind die wachsende Inflation und mögliche Zinsanstiege auch in Europa weiterhin Dauerthema. Die Verbraucherpreisinflation liegt schon lange weit über dem angestrebten Ziel von zwei Prozent – welches Ausmaß die Teuerung im weiteren Jahresverlauf noch annehmen könnte und wann und wie die EZB darauf reagiert, darüber scheiden sich die Meinungen.

Auch in politischer Hinsicht ist das Jahr 2022 in Europa von einigen Unsicherheiten geprägt. Ein Risikofaktor sind etwa die Präsidentschaftswahlen im wirtschaftlichen Aufsteigerland Italien. Verliert Mario Draghi darüber seinen Posten als Premierminister, fürchten viele, dass es mit Italiens Wirtschaftswunder des vergangenen Jahres wieder vorbei sein könnte. Auch in Frankreich stehen im April Präsidentschaftswahlen an.

Außenseiterwette

Doch auch unabhängig von politischen Fragen gibt es Experten, die eine Aufholjagd der EU kritisch sehen. So etwa Thomas Lehr, Kapitalmarktstratege bei Flossbach von Storch: „Wer auf eine bessere Wertentwicklung europäischer Aktien setzt, geht ein hohes Risiko ein. Es wäre ähnlich wie bei einer Sportwette, bei der man auf den Außenseiter setzt.“ Der Top-Legist ist aus seiner Sicht immer noch der US-Markt. Die Kursrallys dort seien aufgrund der steigenden Unternehmensgewinne durchaus gerechtfertigt. Die niedrige Bewertung der europäischen Titel preise allerdings den großen Anteil der Zykliker in der europäischen Börsenlandschaft ein. „Durch diese stark zyklische Ausrichtung fällt das Wachstum der Gewinne der Unternehmen im Index über die Jahre nicht nur magerer aus. Es schwankt auch viel stärker und zwar abhängig davon, ob die Wirtschaft läuft oder eben nicht.“

Wer also in den kommenden Jahren mit einer wachsenden EU-Wirtschaft rechnet, kann seinen Kunden raten, europäische Aktien überzubewerten, sollte dabei aber besonders solche mit etwas höherer Risikoaffinität im Blick haben – denn das Risiko europäischer Titel bleibt verglichen zu US-Werten auf lange Sicht etwas höher.

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