Lebensversicherer scheitern an Wiederanlage
1964 war ein ganz besonderer Jahrgang: Es war der geburtenstärkste der Bundesgeschichte. 1,4 Millionen Menschen erblickten damals das Licht der Welt und sorgten zusammen mit den Folgejahren nicht nur für ein Bevölkerungswachstum, sondern auch für eine starke Verjüngung der Altersstruktur. Heute, über 60 Jahre später, befinden sich diese Jahrgänge auf der Zielgeraden ihres Arbeitslebens. Bis 2036 werden laut Zahlen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) 19,5 Millionen Arbeitnehmer der sogenannten Babyboomer-Jahrgänge vom Arbeitsmarkt verschwinden. Aktuell haben bereits über 6 Millionen von ihnen das gesetzliche Renteneintrittsalter erreicht. Die Kompensation dieses quantitativen und qualitativen Schwunds stellt den Arbeitsmarkt vor eine seiner größten Herausforderungen.
Relevanter für Berater ist jedoch, dass diese altersbedingte Entwicklung ein einmaliges Vertriebspotenzial mitbringt. Denn im Gleichschritt wie die Babyboomer Richtung Rente, befinden sich auch deren Lebensversicherungsverträge auf der Zielgeraden, deren Laufzeit einst auf den Renteneintritt abgestimmt wurde. Bedeutet: künftig werden jedes Jahr Milliarden Euro ausgezahlt, deren (Wieder-)Verwendung oft noch offen ist.
Angebote werden kaum angenommen
Das Potenzial entspringt natürlich nicht nur den Verträgen der Babyboomer. Doch ausgerichtet auf den Übergang ins Rentendasein werden sie das Volumen der jährlichen Fälligkeiten aus Lebensversicherungen nun deutlich erhöhen. Allein in 2023 wurden bereits 46,3 Milliarden Euro durch Ablauf und Erleben an die Versicherten ausgezahlt. In den kommenden Jahren werden es eher 70 oder 80 Milliarden Euro sein.
Angesichts dieses Potenzials und dessen Vorhersehbarkeit überrascht eine Assekurata-Analyse aus diesem Jahr. Hierfür wurden 1.200 Versicherte befragt, die eine einmalige Kapitalzahlung erhalten haben. Ergebnis: Nur die Hälfte von ihnen bekam von ihrem Versicherer überhaupt ein Angebot zur Wiederanlage. Heißt, bei über 20 Milliarden Euro wurden seitens der Versicherer keine Bemühungen angestellt, das Geld im eigenen Haus zu behalten.
Doch nicht nur die Angebote sind selten, auch deren Attraktivität scheint bescheiden. Denn nicht einmal jeder dritte Kunde (31 Prozent) nahm ein solches Angebot überhaupt an. Selbst der beste Versicherer erzielte eine Annahmequote von ausbaufähigen 62 Prozent. Beim schlechtesten Versicherer (2,7 Prozent) fragt man sich, was da als ernst gemeinte Wiederanlagelösung überhaupt angeboten wurde. Die Analysten von Assekurata kamen in ihrer Erhebung auf eine durchschnittliche Wiederanlagequote von gerade einmal 15 Prozent unter den Versicherern. Von 46,3 Milliarden Euro in 2023 blieben also nicht einmal 7 Milliarden Euro in den eigenen Reihen.
In den nächsten Jahren gehen viele Menschen in Deutschland in Rente und haben oft noch nicht viele Vorkehrungen für diese Zeit getroffen.Igor Radović, Vorstandsmitglied bei Canada Life
Es fehlen Prozesse und Produkte
Wie kann das sein? Laut Lars Heermann, Bereichsleiter Analyse und Bewertung bei Assekurata, gehe kaum ein Versicherer die Wiederanlage „wirklich ganzheitlich an“. Selten griffen die Rädchen aus adressatengerechter Kommunikation, flexiblen Produkten und begleitender Vertragsbetreuung so ineinander, dass Ablaufleistungen häufiger für eine langfristige Wiederanlage verwendet würden. Mit Parklösungen schaffe man keine echte, langfristige Wiederanlage und viele Verträge blieben während der Laufzeit unbetreut, was die Aktivierung und Begeisterung für die eigenen Lösungen zum Vertragsende erschwere (siehe auch Interview mit Lars Heermann).
Die maue Wiederanlagequote ist keine News in der Branche. Das Potenzial im eigenen Bestand liegt schon seit Jahren brach und den wenigsten Anbietern gelingt es, dies zu heben. Wirklich darüber sprechen wollen dann auch die wenigsten. procontra befragte nicht zum ersten Mal Lebensversicherer nach ihren Wiederanlagequoten und Strategien, diese zu steigern. Die Resonanz und Redebereitschaft blieben auch diesmal überschaubar. „Wir wollen uns zu diesem Thema nicht weiter äußern“, hieß es beispielsweise von der WWK, Barmenia-Gothaer oder der LV1871. Die Alte Leipziger gab zumindest den Ausblick, dass man „gerade intern die Neuausrichtung des Wiederanlagemanagements diskutiere“ und daher erst nächstes Jahr wieder auskunftsfähig sei.
Ansparziel gemeinsam erreicht
Der Volkswohl Bund lieferte Antworten und nannte veränderte Kundenbedürfnisse als Argument gegen eine Wiederanlage: „Wenn ein Kunde sich zum Ende der Ansparphase für die Auszahlung seines Kapitals entscheidet, bedeutet es, dass er das Geld zu diesem Zeitpunkt benötigt – etwa, weil er ein Immobiliendarlehen ablösen will oder weil eine größere Anschaffung ansteht. Auch bei uns ist daher die Wiederanlagequote eher gering“, so eine Sprecherin. Ähnlich äußerte sich die Allianz: „Erhalten Kunden Leistungen aus ihrer Police, dann haben sie dafür über viele Jahre bei und mit uns gespart oder Einmalzahlungen bei uns angelegt. Verwenden sie dieses Geld dann für ihre Bedürfnisse, ist das gemeinsame Ziel erreicht“, so ein Sprecher.
Die Erklärungen sind sicherlich nah an der Lebensrealität der Menschen. Nach jahrelangen Sparprozessen erscheint die hohe Einmalsumme attraktiver für Wünsche, Träume und Verbindlichkeiten als eine lebenslange Rente, die angesichts konservativer Kalkulationen gemäß Sterbetafeln, für viele Versicherte unattraktiv ist.
Rentenphase kaum beachtet
Die niedrige Wiederanlagequote spiegelt aber auch eine starre Produktpalette und den jahrelangen Fokus der Anbieter auf die Ansparphase wider. Flexibilität bei Beiträgen, Fondsanlage, Entnahmen oder Zuzahlungen beschreiben meist nur die individuelle Gestaltung der Ansparphase. Dabei dauert die Leistungsphase heute schon oftmals länger als der Ansparprozess. Und diese zweite Lebenshälfte soll flexibel bleiben – insbesondere beim Thema Liquidität. Ein Kapitalwahlrecht zum Rentenbeginn reicht da nicht, um Kundenbedürfnisse „besonders flexibel“ abzubilden. „Individuellere Auszahlpläne statt starrer Leibrenten“, beschreibt ein notwendiges Umdenken, die Rentenphase stärker zu fokussieren, um dann auch fällige Beträge ans eigene Haus zu binden. „Die Produktschmieden müssten noch viel mehr auf die Bedürfnisse im Rentenalter eingehen“, beobachtet auch Assekurata-Analyst Heermann. Flexible und fondsgebundene Rentenbezugsphasen gehörten seiner Ansicht nach genauso dazu, wie die Absicherung des Pflegerisikos. „In der Breite fehlt es an intelligenten Lösungen, die dann auch attraktiv für die Klientel 60 plus mit auslaufenden Lebensversicherungsverträgen sind“, kritisiert Heermann.
Das Institut für Vorsorge und Finanzplanung (IVFP) beobachtet den Markt in diese Richtung und führt derzeit elf Versicherer, die auch während der Rentenphase über Fondspolicen Chancen der Kapitalmärkte mit Auszahlplänen ermöglichen. Die Bedingungen dazu sind noch sehr verschieden, wirkliche Standards entwickeln sich hier noch, was Vergleiche und Beratung herausfordert.
Die Allianz verweist procontra gegenüber neben ihrem ParkDepot auf ihre PrivateMarketPolice, um die Vermögensübertragung möglichst flexibel gestalten zu können. Die Canada Life sieht sich selbst als Spezialist für Wiederanlageprodukte. Dennoch sei die Quote „derzeit noch niedrig“ im eigenen Haus, sagt Igor Radović, Mitglied des Vorstands bei Canada Life, ohne eine genaue Zahl nennen zu wollen. Mit dem Flexiblen Kapitalplan oder der Garantie Investment Rente böte man aber Lösungen, mit denen Kunden bereits zwischen lebenslanger Rente sowie Teil- und Vollverfügbarkeit wählen und ihre Ruhestandsplanung flexibel gestalten könnten, verspricht Radović.
Der Übergang in die Rente erfordert sorgfältige Planung, um den Lebensstandard in den Ruhestandsjahren verlässlich abzusichern.Thomas Wiesemann, Vertriebsvorstand Allianz
Phasen statt Zeitpunkte beraten
In Gesprächen mit Versicherern ist zu merken, wie gern man die eigene Produktpalette als „besonders flexibel“ darstellt. Ein Narrativ, das verfängt, über ein bloßes Kapitalwahlrecht aber kaum noch Kunden für eine Wiederanlage begeistert. Diese wollen maximale Freiheit ohne sich (jemals) festlegen zu wollen, wann, wie lange, in welcher Form und Höhe sie ihr aufgebautes Kapital verwenden möchten. Die eierlegende Wollmilchsau in der Rentenphase sozusagen.
Das hat Folgen in der Beratung. Dort darf es nicht allein um den Zeitpunkt des Rentenbeginns gehen, sondern vielmehr darum, den Ruhestand insgesamt zu planen. Teil- und Vollverrentung, Kaufkrafterhalt in der Rentenphase, Einkommenssicherheit und Gewährleistung der Liquidität müssen bei der Zielgruppe mit Themen der Pflegevorsorge, Erben und Schenken in Einklang gebracht werden. Das macht man nicht mal eben zum Zeitpunkt der Auszahlung und schon gar nicht über die Frage lebenslange Rente oder Einmalbetrag. „Der Übergang in die Rente erfordert sorgfältige Planung, um den Lebensstandard in den Ruhestandsjahren verlässlich abzusichern“, bestätigt auch Thomas Wiesemann, Vertriebsvorstand der Allianz Lebensversicherung.
Vermittler, die vom Potenzial der Wiederanlage profitieren möchten, brauchen Expertise zur Ruhestandsplanung, sieht auch Heermann die Notwendigkeit sich in einem ganzen Beratungsfeld zu spezialisieren: „Das ist ein hochkomplexes Thema mit steuerlichen Facetten, neben der Produktlandschaft“, so der Analyst gegenüber procontra. Angesichts des riesigen Potenzials zahle sich diese Spezialisierung jedoch doppelt und dreifach aus.
Ruhestandsplanung als Chance für die Beratung
Die Klientel gehört nicht nur von ihrem Vermögen her, sondern zukünftig auch zahlenmäßig zur attraktivsten Zielgruppe für Vermittler: „In den nächsten Jahren gehen viele Menschen in Deutschland in Rente und haben oft noch nicht viele Vorkehrungen für diese Zeit getroffen“, ermutigt Radović, den Ruhestand der Kunden zu fokussieren.
Ruhestandsplaner beziehen deutlich mehr in die Beratung ein als nur das Risiko der Langlebigkeit. Sie ermöglichen die gewünschte finanzielle Freiheit während der Rente. Beispielsweise indem sich die Höhe einer lebenslangen Rentenzahlung an den laufenden Kosten für Miete, Lebensmittel, Wohnnebenkosten im Ruhestand orientiert und damit die Grundversorgung absichert. Mit dem Rest werden Chancen an den Kapitalmärkten ergriffen, um die Kaufkraft weiterhin zu gewährleisten und ohne das Vermögen „einzufrieren“. Dieses Thema wird, angesichts von Rentenbezugsphasen von mehreren Jahrzehnten, in Zukunft an Bedeutung gewinnen, ebenso wie die Abdeckung des Pflegerisikos. Anbietern, denen es gelingt, die Rentenbedürfnisse von heute in intelligenten Produkten abzubilden, werden ein großes Stück vom Wiederanlagekuchen abbekommen.
Gleiches gilt auch für Vermittler, denen es gelingt, einen Prozess schon deutlich vor dem Auslaufen der LV-Verträge ihrer Kunden aufzusetzen und dabei zur gesamten Rentenphase, statt nur zur Frage des Kapitalwahlrechts zu beraten.