„Das Wiederanlagethema beginnt bereits beim Vertragsabschluss“
Was Sie erfahren werden
Wie viel Milliarden Euro jährlich aus fälligen Lebensversicherungen frei werden
Warum die Wiederanlagequote bei den Versicherern so gering ist
Was auf Produktebene nötig ist, um das Potenzial besser heben zu können
Die Babyboomer-Jahrgänge werden in den kommenden Jahren aus der Arbeitswelt ausscheiden. Gleichzeitig befinden sich auch viele ihrer Lebensversicherungsverträge auf der Zielgeraden ihrer Ansparphase. Jedes Jahr werden daher Milliarden Euro ausgezahlt, deren Verwendung oftmals noch unklar ist. Lars Heermann, Bereichsleiter Analyse und Bewertung bei Assekurata Assekuranz Rating-Agentur GmbH, sieht die Lebensversicherer noch zu selten ganzheitlich vorbereitet, dieses Potenzial zu heben. Mit procontra sprach er über fehlende Prozesse, die Rolle des Vermittlers und was auf Produktebene fehlt.
procontra: Nach wie vor tun sich die Lebensversicherer sehr schwer damit, das Kapital auslaufender Verträge im eigenen Haus zu behalten. Ihre jüngste Analyse bestätigt das mit einer LV-Wiederanlagequote von nur 15 Prozent. Warum gelingt es nicht, ein höheres Potenzial zu heben?
Lars Heermann: Selten wird das Thema wirklich ganzheitlich angegangen. Damit das Kapital oder zumindest ein Teil davon wieder beim Versicherer angelegt wird, müssen mehrere Stellschrauben in die richtige Richtung gedreht werden. Spontan denkt man zunächst an die Produktebene – was kann der Versicherer also als Lösung anbieten? Da gibt es dann eine „unechte“ Wiederanlage, wo das Geld zunächst kurzfristig geparkt und relativ gut verzinst wird. Dort verbleibt es dann aber meist und wird irgendwann abgezogen, schafft es somit gar nicht in die langfristige Wiederanlage. Sofort beginnende Renten als langfristige Wiederanlage sind je nach Einkommens- und Vermögenssituation auch nicht für jeden Kunden die einzig richtige Lösung.
procontra: Laut Ihrer Kundenbefragung bekommt nur etwa die Hälfte der Kunden überhaupt ein Angebot zur Wiederanlage. Das verwundert angesichts des Potenzials von mehreren Milliarden Euro jedes Jahr.
Heermann: Absolut. Jedes Jahr werden an die 50 Milliarden Euro an Ablaufsumme frei. Das Potenzial im eigenen Bestand ist also enorm. Doch der Fokus liegt nach wie vor auf der Akquise neuer Kunden. Dabei würde es sich lohnen, den Prozess zur Wiederanlage ganzheitlicher aufzusetzen.
procontra: Das ist den Versicherern auch bekannt. Welche Stellschrauben müssten gedreht werden?
Heermann: Neben flexiblen Produkten und einer frühzeitigen adressatengerechten Kommunikation spielt auch der Vermittler eine zentrale Rolle. Viele Verträge sind über die lange Laufzeit unbetreut. Dadurch fehlt es dem Kunden an Bindung und Beratung und er neigt dazu, am Ende das Kapital zu wählen und es außerhalb des Versicherers zu investieren oder schlicht zu konsumieren. Kunden und Vermittler müssen über die Möglichkeiten der Kapitalverwendung stärker informiert und geschult werden, damit sich die Chancen erhöhen, dieses Kapital im eigenen Haus zu behalten.
Viele Verträge sind über die lange Laufzeit unbetreut. Dadurch fehlt es an Bindung und der Kunde neigt dazu, am Ende das Kapital zu wählen und es außerhalb des Versicherers zu investieren oder schlicht zu konsumieren.Lars Heermann
procontra: Was wäre eine rechtzeitige Ansprache?
Heermann: Zugespitzt würde ich sagen, dass das Wiederanlagethema bereits beim Vertragsabschluss beginnt. Gerade heute bieten Lebensversicherungen flexible Optionen während der Ansparphase. Viele Produkte sind fondsgebunden, was während der Laufzeit vielfältige Möglichkeiten der Betreuung und Beratung bietet. Es gibt genügend Anlässe zur Beratung, gerade bei veränderten Lebens- und Arbeitssituationen, wo dann auch irgendwann die Frage aufkommt, was mit dem Kapital im Ruhestand passieren kann. Das wäre dann ein langfristiger Übergang, der erfolgsversprechender ist als ein kurzfristiger Aktionismus.
procontra: Angebote zur Wiederanlage sind rar, aber auch die Annahmequote der Kunden liegt nur bei 31 Prozent. Dazu variiert sie stark zwischen 3 und 62 Prozent. Was machen Anbieter mit einer hohen Annahmequote besser als andere?
Heermann: Die Rädchen im gesamten Prozess greifen dort besser ineinander: Der Vertrieb ist oft besser über den Kunden informiert. Der Versicherer weiß sehr häufig, welche Kundentypen im eigenen Bestand vorhanden sind, mit welchen Einkommensverhältnissen und Bedürfnissen. Aber diese Informationen werden dem Vertrieb nicht überall so zur Verfügung gestellt, dass sie für die Wiederanlage – oder auch andere Themen – genutzt werden können. Auch eine breitere, innovativere Produktpalette, die zwischen dem Parkdepot und der lebenslangen Rente flexiblere Lösungen bietet, trägt zu einer höheren Annahmequote bei.
procontra: Können Lebensversicherer im Vergleich zum gesamten Wettbewerb überhaupt ausreichend attraktive Angebote machen?
Heermann: Hier ist noch viel Luft nach oben. Die Produktschmieden müssten noch viel mehr auf die Bedürfnisse im Rentenalter eingehen. Möglich ist das bereits, beispielsweise mit fondsgebundenen und flexibleren Rentenbezugsphasen oder der Absicherung des Pflegerisikos. Aus unserer Sicht fehlt es da in der Breite an intelligenten Lösungen, die dann auch attraktiv für die Klientel 60 plus mit auslaufenden Lebensversicherungsverträgen sind.
Die Produktschmieden müssten noch viel mehr auf die Bedürfnisse im Rentenalter eingehen.Lars Heermann
procontra: Was fehlt Ihnen auf Produktebene?
Heermann: Für die meisten Kunden erscheint die lebenslange Verrentung auf den ersten Blick unattraktiv. Das ist zwar ein Pfund der Versicherungswirtschaft, aber die Menschen haben oft andere Pläne und wünschen sich gar keine lebenslange Rente, zumal diese subjektiv häufig niedrig ausfällt. Also wählen sie das Kapital. Hier ist mehr Beratung erforderlich,, da das Langlebigkeitsrisiko und die eigene Lebenserwartung oft unterschätzt werden, wodurch es irgendwann zu Liquiditätsengpässen und Altersarmut kommen kann. Gleichzeitig muss auch die Vermögenssituation und die Nachlassplanung des Kunden ins Kalkül gezogen werden. Grundsätzlich braucht es ertragsstärkere Produkte, die mehr Chancen am Kapitalmarkt auch in der Rentenphase ermöglichen. Es braucht Produkte, die auch auf einen veränderten Gesundheitszustand reagieren können – Stichwort Pflegevorsorge. Insgesamt könnte der Rentenübergang flexibler gestaltet werden, indem beispielsweise nur ein Teil des Kapitals lebenslang verrentet und der Rest bedarfsweise über Einmalauszahlungen oder auch als Entnahmeplan genutzt werden kann. Viele Produktfeatures fokussieren stattdessen nur die Ansparphase. Dabei ist der Zeitraum der Auszahlungsphase heute oft schon länger.
procontra: Will man mit Versicherern über das Thema Wiederanlage sprechen, winken die meisten ab. Warum ist das so heikel?
Heermann: Das nehmen wir auch so wahr. Dass man die eigene Quote mit Blick auf den Wettbewerb nicht öffentlich kommuniziert, ist noch nachvollziehbar, gerade wenn sie vergleichsweise gering ist. Aber dass keine größeren Anstrengungen unternommen werden, um die eigene Quote signifikant zu erhöhen, ist mir mit Blick auf das genannte Milliardenpotenzial rätselhaft.
procontra: Sie sagen, dass es ein systematisches und personalisiertes Wiederanlagemanagement braucht. Ist das der Weg über den Vermittler von diesem Potenzial partizipieren können?
Heermann: Ja, die Vermittler sollten unbedingt eingebunden werden. Allein ein Standardanschreiben der Versicherer über den bald fällig werdenden Betrag funktioniert nicht und wird größtenteils vom Kunden ignoriert. Der Kunde muss aktiviert werden und hierzu braucht es neben einem durchdachten Prozess eben auch die persönliche Ebene in der Ansprache, wo jemand über die Hintergründe und Bedürfnisse des Kunden Bescheid weiß und diese qualifiziert adressieren kann.
Wer vom Potenzial der Wiederanlage profitieren und die zweite Lebenshälfte ganzheitlich beraten möchte, braucht Expertise zur Ruhestandsplanung. Das ist ein hochkomplexes Thema, auch mit all seinen steuerlichen Facetten neben der Produktlandschaft. Doch die Chancen, sich als Experte zu positionieren, sind groß, so dass sich dieser Aufwand lohnen kann.
procontra: Ist Ihnen ein Best-Practice-Beispiel bekannt, wo die Wiederanlage sehr gut gelingt?
Heermann: Es gibt Anbieter bei denen einzelne Stellschrauben wie die Produktlandschaft oder die Kommunikation schon deutlich besser ausgerichtet sind als im Wettbewerb. Aber ein Vorzeigeanbieter ist mir bislang dazu nicht bekannt. Vielleicht entwickelt sich dieser in der Zukunft, denn das Thema gewinnt weiter an Bedeutung, wenn die Babyboomer demnächst über das Kapital ihrer Lebensversicherungen neu entscheiden müssen. Da sprechen wir dann möglicherweise irgendwann nicht mehr über 50 Milliarden Euro jedes Jahr, sondern eher über 70 oder 80 Milliarden. Könnte die Branche ihre Quote bis dahin nur um einen Prozentpunkt verbessern, würde ihr das 700 oder 800 Millionen Euro einbringen und im Gegenzug auch den Druck im Neugeschäft reduzieren. Von daher dürften viele Lebensversicherer nicht an diesem Thema vorbeikommen, auch wenn sie sich nach außen dazu eher bedeckt halten.
Mehr zum Thema LV-Wiederanlage, das Potenzial der fälligen Verträge und zur aktuellen LV-Bilanzsaison erfahren Sie in der kommenden Printausgabe der procontra 4/25, die am 8. August erscheinen wird.