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„Stille Lasten beschränken die Investitionsfreiheit“

Was ein moderaterer Zinsanstieg für die Lebensversicherer erleichtert hätte, warum die Eurovita-Pleite in Deutschland unwahrscheinlich ist und welche Anbieter jetzt im Vorteil sind, erklärt Max Happacher, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV).

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15:07 Uhr | 21. Juli | 2023
Max Happacher

Hält ein Ereignis wie die Pleite des italienischen Lebensversicherers Eurovita in Deutschland für unrealistisch: DAV-Vorstandsvorsitzender Max Happacher

| Quelle: DAV

procontra:

Seit Juli 2022 steigen die Zinsen endlich wieder. Warum jubeln die Lebensversicherer dennoch nicht grenzenlos?

Max Happacher:

Während der Niedrigzinsphase hätten sich die meisten Experten natürlich eine Zinserhöhung gewünscht. Allerdings in einem moderateren Maße von 1 bis 1,5 Prozent pro Jahr. Nun haben wir in einem Jahr einen Zinsanstieg um 4 Prozent erlebt. Die initiale Zinswende gab Anlass zur Freude. Die jetzige Geschwindigkeit erzeugt jedoch auch neue Herausforderungen.

procontra:

Welche genau und warum wäre eine langsame Erhöhung hilfreicher gewesen?

Happacher:

Die Kurse der festverzinslichen Wertpapiere im Bestand sind stark gesunken. Dadurch wurden stille Lasten in den Büchern aufgebaut, weil die Neuanlage deutlich höher verzinst wird als die Papiere, mit denen sich die Anbieter in den letzten Jahren eindecken mussten. Deshalb wäre ein moderater Zinsanstieg wünschenswerter gewesen. Auf der anderen Seite haben sich die langfristigen Probleme aber deutlich abgemildert, da sich Garantien nun wieder leichter darstellen lassen. Insofern ist die aktuelle Situation für die Lebensversicherer wesentlich besser als noch vor zwei Jahren. Sollte das Stornoverhalten der Kunden weiter auf niedrigem Niveau bleiben, sprechen wir eher von einem Luxusproblem.

procontra:

Sind stille Lasten überhaupt dramatisch? Immerhin lösen sie sich bei festverzinslichen Wertpapieren zum Laufzeitende automatisch auf.

Happacher:

Grundsätzlich ist das so, ja. Allerdings erschweren sie auch zunächst die Umstrukturierung der Kapitalanlage, da dies mit der Realisierung stiller Lasten und damit von Verlusten einhergehen müsste. Stille Lasten beschränken daher die Investitionsfreiheit in der Kapitalanlage. Sie wären auch dann kritisch, wenn plötzlich Liquidität erforderlich würde, durch massenhaften Storno beispielsweise. Könnte diese nicht aus laufenden Erträgen und Beiträgen generiert werden, so müssten stille Lasten realisiert, sprich Kapitalanlagen verkauft werden. Das Liquiditätsrisiko schätze ich jedoch als gering ein.

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procontra:

Dem italienischen Lebensversicherer Eurovita wurden jüngst seine stillen Lasten zum Verhängnis. Warum beunruhigt sie das nicht?

Happacher:

Weil das Geschäftsmodell der Lebensversicherer in Italien viel stärker auf kurzfristiges Spargeschäft ausgelegt ist. Mit dem starken Zinsanstieg stiegen auch die Alternativen mit attraktiverem Zins. So kam es zu einer Stornowelle, für die Eurovita – auch aufgrund der stillen Lasten – nicht liquide genug war. Hierzulande liegt der Fokus auf dem langfristigen Altersvorsorgegeschäft, wodurch ich dieses Szenario für den deutschen Markt für unwahrscheinlich halte.

procontra:

Die Stornoquote nach laufenden Beitrag liegt aktuell bei den deutschen Lebensversicherern bei rund 2,6 Prozent. Ab welcher Quote würde Sie nervös werden?

Happacher:

Dies ist natürlich unternehmensindividuell zu betrachten. Als Faustformel würde ich bei einer Verdopplung nochmal etwas genauer hinschauen.

procontra:

Ist das so unrealistisch? Haushalte sind hoch belastet durch die Inflation und die wirtschaftlichen Vorzeichen stehen auf Rezession. Die Einkommenssituation vieler Menschen könnte sich verschlechtern. Da werden in Zukunft mehr Menschen sicher auch über ihre Vorsorgeverträge nachdenken, um liquide zu bleiben.

Happacher:

Theoretisch ist das natürlich denkbar. Wir sehen aber, auch im Ausland mit ähnlichem Geschäftsfokus, dass die Kunden mit ihren Vorsorgeplänen und -produkten sehr verantwortungsvoll umgehen. Sie wissen meist, dass ein Storno ihr Liquiditätsproblem lediglich verschieben würde. Und zwar in ihr Rentendasein, wo es dann nicht mehr korrigiert werden kann. Hier spielen Vermittler eine entscheidende Rolle, um über die Folgen und auch Alternativen eines Stornos rechtzeitig aufzuklären.

procontra:

Stichwort Liquidität. In 2022 konnte die Zinszusatzreserve abgebaut werden. Wie wohltuend ist diese Ertragsquelle?

Happacher:

Mit Blick auf die stillen Lasten ist sie sehr wohltuend. Ein hoher ZZR-Ertrag erlaubt die Realisierung stiller Lasten zu Gunsten einer höherverzinsten Neuanlage. Damit wird die langfristige Ertragssituation gestärkt und kommt dem Kunden über die Zeit zugute. Kurzfristig kann der ZZR-Ertrag auch zur Stabilisierung der Überschussbeteiligung verwendet werden, wie wir es zum Jahreswechsel beobachten konnten. Das ist nach außen natürlich wesentlich sichtbarer und ein wichtiges Wettbewerbsinstrument.

Andererseits haben die Anbieter auch ihr Risikomanagement im Blick – was in diesem Zusammenhang insbesondere das Szenario eines wieder sinkenden Zinses bedeutet. Für diesen Fall müssen sie das jetzige Zinsniveau auch nutzen und können nicht den gesamten ZZR-Ertrag in die Überschussbeteiligung leiten, auch wenn dies vielleicht etwas werbewirksamer wäre.

procontra:

Gut, wer hier ein starkes Neugeschäft vorweisen kann, oder?

Happacher:

Es ist sogar absolut notwendig, da mitunter sonst gar kein bzw. nur sehr wenig Kapital zur Neuanlage zur Verfügung steht. Ein starkes Neugeschäft mit laufenden Beiträgen schafft die notwendige Liquidität für eine hochverzinsliche Neuanlage. Hier haben Lebensversicherer, die im Verhältnis zu ihrem Bestand viel Neugeschäft einsammeln, einen Vorteil gegenüber Anbietern mit hohem Bestand und verhältnismäßig weniger Neugeschäft.