„Wir nähern uns einem Showdown“
procontra:
Bis Ende Juli verlief das Börsenjahr mit einem Plus von 16 Prozent beim DAX und fast 13 Prozent beim MSCI World sehr gut. Seitdem überwiegen die negativen Nachrichten. Ist der Aufschwung bei Aktien erst einmal vorbei?
Bert Flossbach:
Möglicherweise wird das zweite Halbjahr schlechter als das erste. Die Frage nach der Jahres- oder Halbjahresperformance ist für langfristig orientierte Investoren aber müßig. Auf Dauer ist man besser dran, wenn man für Aktien zuversichtlich ist, nicht naiv optimistisch, aber zuversichtlich.
procontra:
Aber seit den massiven Leitzinserhöhungen der Notenbanken haben Anleger wieder eine Alternative. Der Zins ist zurück. Eine zehnjährige Bundesanleihe bringt 2,7 Prozent und italienische und US-amerikanische Papiere jeweils 4,4 Prozent. Finden Sie das nicht attraktiv?
Flossbach:
Die allgemein aufkommende Begeisterung für Anleihen erscheint uns noch verfrüht. Nach Jahren des Null- und Negativzinses werfen Schuldverschreibungen zwar optisch wieder ansprechende Renditen ab. Aber im Euroraum lag die Inflationsrate im Juli immer noch bei 5,3 Prozent und in den USA bei 3,2 Prozent. Angenommen, die Geldentwertungsrate bliebe so, dann würden Käufer von zehnjährigen Bundesanleihen am Ende der Laufzeit einen realen Verlust machen und Käufer von US-Treasuries einen dürftigen Gewinn. Selbst wenn die Inflation auf das Zielniveau der Notenbanken von nahe 2 Prozent sinken würde, ergäbe sich für Investoren von zehnjährigen Bundesanleihen eine reale Verzinsung von nur 0,7 Prozent. Inhaber von US-Titeln erhielten immerhin 2,4 Prozent – in US-Dollar versteht sich. Alles hängt also von den Inflationserwartungen eines Anlegers für diesen langen Zeitraum ab.
Flossbach:
Als Parkposition können einjährige Euro-Titel interessant sein. Aber zum Ende der kurzen Laufzeit haben Investoren wieder ein Anlagerisiko. Insofern sollte sich niemand von optisch hohen Sätzen verleiten lassen.
procontra:
Sie haben auf die Bedeutung der Inflationserwartungen hingewiesen. Die großen Notenbanken in den USA und Europa bemühen sich, die Inflation durch Leitzinserhöhungen in den Griff zu bekommen. Wird ihnen das gelingen?
Flossbach:
Die größte Herausforderung für die Währungshüter ist der ungewöhnliche Charakter der Inflation. In den Jahren 2021 und 2022 befeuerten steigende Energie- und Rohstoffpreise die Inflation. Jetzt sind es in erster Linie steigende Preise für Dienstleistungen beziehungsweise Lohnzuwächse. Deshalb liegt zum Beispiel die US-Kerninflationsrate – also ohne Nahrungsmittel und Energie – über der Gesamtinflationsrate. Die Kerninflationsrate ist in den Fokus der Notenbanken gerückt, denn die hohe Lohninflation birgt die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale. Um den Anstieg der Löhne zu bremsen, müssten die Notenbanken die Zinsen so stark erhöhen, dass sie damit eine Anpassungsrezession erzeugen, die die Nachfrage nach Arbeitskräften deutlich reduziert.
Flossbach:
Die Risiken einer Rezession wären tragbar, solange die Finanzmarktstabilität nicht gefährdet ist. Der Beinah-Kollaps einer britischen Pensionskasse im Herbst 2022 und die gestrauchelten US-Regionalbanken im März 2023 haben verdeutlicht, dass massive Zinserhöhungen nach einer langen Nullzinsphase fast zwangsläufig zu Kollateralschäden führen. Umso mehr hoffen die Notenbanken, dass sich die Weltwirtschaft ohne ihr weiteres Zutun abkühlt. Einen Beitrag dazu könnte China liefern, wo sich eine Wachstumsschwäche andeutet. Eine spürbare Senkung der hartnäckig hohen Kerninflation in den USA und Europa ist dadurch aber nicht zu erwarten.
Flossbach:
Im Wesentlichen sind das die eben angesprochenen Schieflagen im Finanzsektor – und damit die Gefahr einer neuerlichen Finanzkrise. Oder ein sehr deutlicher Abschwung der Weltwirtschaft, der zu zahlreichen Unternehmenspleiten führen würde. Also mehr, als das, was die Notenbank bewusst in Kauf nehmen würde, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Die Rückkehr in Richtung Inflationsziel gibt es jedenfalls nicht kostenlos. Nach allgemeiner Einschätzung ist die Bekämpfung der Inflation lediglich kostengünstiger, als die Inflation einfach laufen zu lassen.
Flossbach:
So könnte man es ausdrücken. Möglicherweise nähern wir uns einem Showdown. Denn die Notenbanken stehen vor der Frage, welches Ziel hat im Zweifel Vorrang, die Inflationsbekämpfung oder die Finanzmarktstabilität? Anders formuliert: Wie weit können die Notenbanken ihren Kampf gegen die Inflation fortsetzen, bis es im Finanzsystem knirscht? Und wie stark muss es knirschen, damit die Notenbanken sich gezwungen sehen zurückzurudern, obwohl die Inflation noch nicht unter Kontrolle ist?
Flossbach:
Sollte es zu Verwerfungen im Finanzsystem kommen, die sich nicht auf einzelne regionale Geschäftsbanken beschränken, ist davon auszugehen, dass die Notenbanken relativ schnell die Inflationsbekämpfung zugunsten der Finanzmarktstabilität aufgeben. Dann müssten die Notenbanken eine Kehrtwende ihrer Geldpolitik vollziehen, obwohl das Zwei-Prozent-Ziel noch nicht erreicht ist. Dieses Szenario findet an den Anleihemärkten derzeit kaum Beachtung, vor allem nicht in der Eurozone, wo die niedrigen Renditen von Langläufern den Erfolg im Kampf gegen die Inflation eingepreist haben.
Das gesamte Interview lesen Sie in der kommenden Ausgabe der procontra.