Test bei Krankenversicherern

Ist Psychotherapie noch ein Killerkriterium für die PKV?

Der Abschluss einer privaten Krankenversicherung war bislang für Menschen mit Psychotherapie-Erfahrung fast unmöglich. Das hat ein procontra-Test vor über einem Jahr gezeigt. Versicherer wollten daraufhin ihre Annahmepolitik überdenken. Was hat sich seitdem getan?

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12:01 Uhr | 16. Januar | 2024
Ist Psychotherapie noch ein Killerkriterium für die PKV?

Der Abschluss einer privaten Krankenversicherung war bislang für Menschen mit Psychotherapie-Erfahrung fast unmöglich. Das hat ein procontra-Test vor über einem Jahr gezeigt. Ein paar Versicherer wollten daraufhin ihre Annahmepolitik überdenken. Was hat sich seitdem getan?

| Quelle: tatianazaets

Private Krankenversicherer haben ein Problem: Die Bestandszahlen in der Vollversicherung sinken seit Jahren. Zählte der PKV-Verband 2011 noch rund 8,98 Millionen Vollversicherte, waren es 2021 noch 8,71 Millionen. Versicherern müsste also eigentlich daran gelegen sein, die Hürden für einen Wechsel in die PKV abzubauen, um neue Kunden an Land zu ziehen.

Eine dieser Hürden sind psychische Vorerkrankungen oder viel mehr deren nachweisliche Behandlungen. Vor gut anderthalb Jahren hat procontra in Zusammenarbeit mit der PKV-Versicherungsmaklerin Anja Glorius den Test gemacht: An insgesamt 22 Krankenversicherer wurden Voranfragen für vier Musterkunden mit unterschiedlichen therapeutischen Behandlungen geschickt. Darunter Kunden mit Verhaltens-, Psycho- und Paartherapie sowie einem beruflichen Coaching. Dabei hat sich gezeigt: Bei wem die Psychotherapie nicht lang genug zurücklag, hatte kaum eine Chance. Selbst eine Paartherapie und ein berufliches Coaching versperrten den Weg in die PKV. Glorius kritisierte die Reaktionen der Versicherer damals als unzeitgemäß.

Schließlich sind jährlich 17,8 Millionen Deutsche, also mehr als jeder vierte Erwachsene, von einer psychischen Erkrankung betroffen – Tendenz steigend. Rund 301 Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund seelischer Leiden kommen auf 100 Versicherte, wie der DAK-Psychreport 2023 zeigt – ein Rekord. Kurzum: Immer mehr Menschen haben psychische Leiden und suchen sich im besten Fall Hilfe. Doch wurden sie dann von den Versicherern genau dafür abgestraft.

Haben die Versicherer ihre Annahmepolitik verändert?

Immerhin vier Versicherer – Arag, Axa, Hallesche und Signal Iduna – erklärten angesichts der Abfrageergebnisse, sie wollen ihr Auswahlverfahren überdenken. Die Axa antwortete auf Nachfrage sogar, die Ablehnung einer Musterkundin sei nur mit einem individuellen Fehler zu erklären, da die Entscheidung nicht der üblichen Annahmepolitik entspreche. Der Versicherer wollte in Zukunft „solche individuellen Fehler“ vermeiden.

Anderthalb Jahre später will procontra nun herausfinden, ob die Unternehmen ihre Entscheidungsgrundlagen tatsächlich überdacht und verändert haben. Dafür wurden erneut Risikovoranfragen (RVA) verschickt an jene vier Versicherer, die eine Veränderung angekündigt oder Fehler eingeräumt hatten. Um vergleichbare Ergebnisse zu erhalten, sind Alter, Erkrankungen und Behandlungen der Musterkunden identisch mit denen des ersten Tests.

Das positive Fazit: Von insgesamt 16 Entscheidungen haben die Anbieter immerhin acht im Sinne der Kunden anders bewertet.

Anna (37), IT-Administratorin, 30 Sitzungen Verhaltenstherapie vor 5 Jahren, seitdem behandlungs- und beschwerdefrei, erst- und einmalig aufgetreten, keine Psychopharmaka-Einnahme

Anna hatte im ersten Test bei allen 22 angefragten PKV-Anbietern die schlechtesten Karten. Sie wurde insgesamt 16-mal abgelehnt. Damals hatte sie auch bei der Arag, Axa und Signal Iduna keine Chance, die Hallesche forderte einen Abschlussbericht des Arztes an.

Auch anderthalb Jahre später müssen sich Kunden mit dieser Behandlungs-Vita bei der Axa und Signal Iduna auf eine Absage einstellen. Jedoch verlangt nun neben der Halleschen auch die Arag einen Abschlussbericht des Arztes – das kann zumindest als minimale Verbesserung gewertet werden.

Auf die Frage, wie wahrscheinlich die Aufnahme von Anna nach Erhalt des Abschlussberichtes ist, antwortet die Arag, sie betrachte „die Wahrscheinlichkeit von Folgebehandlungen aufgrund bereits bestehender Risikofaktoren und das damit verbundene Kostenrisiko“. Auch wie lange eine Person behandlungs- und beschwerdefrei ist, habe Einfluss auf die Entscheidung oder die Höhe eines Zuschlags. Das allerdings ist bekannt und so bleibt unklar, ob Anna wirklich Chancen auf den Wechsel in die PKV hätte. PKV-Expertin Glorius bezweifelt das. Zwar fordern Versicherer jetzt öfter Abschlussberichte oder eine Selbstauskunft, lehnen im nächsten Schritt aber dann doch ab. „Dann sollten sie lieber gleich ablehnen, sonst haben Vermittler doch nur mehr Arbeit, ohne ein anderes Ergebnis zu bekommen.“

Maria (37), leitende Angestellte im Bankensektor, 3 Sitzungen Psychotherapie vor 2 Jahren wegen Scheidung vom Ehepartner, seitdem behandlungs- und beschwerdefrei, erst- und einmalig aufgetreten

Dass schon drei psychotherapeutische Sitzungen problematisch sein können, um in die PKV zu wechseln, hat sich im ersten procontra-Test gezeigt: Damals lehnten 13 Versicherer Maria ab. Mit dem Ergebnis konfrontiert, räumte die Signal Iduna selbstkritisch ein: „Die Anfrage hätte im Rahmen einer individuellen Prüfung aufgrund von aussagekräftigen Berichten nicht zwingend abgelehnt werden müssen.“ Man wollte den Fehler prüfen. Und tatsächlich fordert der Versicherer aktuell erst einmal den Abschlussbericht des Arztes ein.

Den verlangte auch die Arag in 2022. Das ist jetzt allerdings anders: Sie gewährt der Musterkundin eine Annahme „ohne Erschwernis“. „Die Arag fällt positiv auf“, so Glorius. Allerdings fragt der Versicherer zehn Jahre rückwirkend nach psychischen Erkrankungen, viele Anbieter haben diesen Zeitraum auf fünf Jahre eingeschränkt. „Wir sehen nach wie vor einen Abfragezeitraum für psychische Erkrankungen von 10 Jahren als erforderlich an und sehen hier auch keine signifikante Abweichung vom Markt. Insbesondere dient der Zeitraum dazu, schwerwiegende Erkrankungen zu erfassen, die periodisch verlaufen und durch längere behandlungsfreie Intervalle gekennzeichnet sind“, erklärt der Versicherer auf Nachfrage.

Auch die Axa hat offenbar ihre Annahmekriterien angepasst: Lehnte sie in 2022 Maria noch ab, bittet sie die potenzielle Neukundin nun um eine Selbstauskunft. Dabei handelt es sich um eine Art psychologischen Fragebogen. Eine solche Selbstauskunft füllte PKV-Maklerin Glorius meist gemeinsam mit ihren Kunden anonymisiert aus. Gibt der Versicherer anschließend grünes Licht, stellt die Maklerin den offiziellen Antrag. Nur verhält es sich mit der Selbstauskunft so, wie eben auch mit dem Arztbericht: Laut Glorius lehnen Versicherer im zweiten Schritt oft ab.

Einzig die Hallesche bleibt in Marias Fall bei ihrer Entscheidung: Sowohl vor anderthalb Jahren als auch aktuell würde der Anbieter die Musterkundin ablehnen. Danach gefragt, ob das Vorgehen noch zeitgemäß ist, antwortet der Versicherer: „Wir meinen ja. Selbstverständlich arbeiten wir permanent an Verbesserungen unserer Tarife, unserer Kundenservices und hinterfragen dabei genauso regelmäßig auch unsere getroffenen Entscheidungen in Zusammenhang mit Marktentwicklungen. Aktuell sehen wir aber keine Veranlassung unsere Risikoprüfung bzw. Annahmepolitik zu verändern.“

Nina (41), Management-Assistentin, Paartherapie mit Ehepartner zur Stabilisierung der langjährigen Partnerschaft, 15 Sitzungen vor 3 Jahren

In unserem ersten Test haben die Reaktionen der Versicherer auf eine Person mit Paartherapie-Erfahrungen überrascht: Von 22 Anbietern haben 15 sofort mit einer Absage reagiert. Zwei Versicherer sind damals nach procontra-Rückfrage aber zurückgerudert: Die Arag wollte den Fall noch einmal intern prüfen. Die Axa erklärte die Ablehnung mit „einem individuellen Fehler“. Die Reaktion habe demnach nicht der üblichen Annahmepolitik entsprochen. Und tatsächlich haben beide Anbieter nicht zu viel versprochen: Die Axa erbittet aktuell einen abschließenden Arztbericht und erklärt: „Die risikomedizinische Prüfung ist immer eine Einzelfallprüfung.“ Die Arag würde Nina sogar „ohne Erschwernis“ annehmen.  

Derweil bleiben die Hallesche und die Signal Iduna weiterhin bei ihrem Verdikt und lehnen die Musterkundin ab. Die Hallesche erklärt ihre Entscheidung damit, dass „Paartherapien erfahrungsgemäß auch durch krankheitsbedingte Umstände ausgelöst sein können, denen nicht selten familiäre bzw. eheliche Belastungen vorausgehen.“ Auch Glorius weiß von der Sorge der Versicherer, dass sich hinter der Paartherapie eine psychische Erkrankung verbergen könnte. Das allerdings habe sie in ihren 20 Jahren Berufserfahrung noch nie erlebt.

Stefan (30), angestellter pharmazeutischer Leiter, 3 Sitzungen berufliches Coaching vor 3 Jahren beim Psychotherapeuten, ausschließlich zur beruflichen Orientierung während des alten Beschäftigungsverhältnisses, ohne Beschwerden

Erstaunlich waren auch die Reaktionen auf den Musterkunden mit Coaching-Erfahrung. Immerhin war der Grund ein beruflicher, zumal drei Sitzungen nicht für eine schwere Erkrankung sprechen. Dennoch haben in 2022 insgesamt sechs Anbieter Stefan eine Absage erteilt. Darunter auch die Hallesche. Sie erklärte auf Nachfrage jedoch, die Risikoprüfung in Zukunft „möglicherweise“ anpassen zu wollen. Entsprechend hat der Versicherer offenbar gehandelt und bittet aktuell um den Abschlussbericht des Arztes. „Berufliches Coaching stellt aus unserer Sicht nur in wenigen Ausnahmefällen eine Therapie dar, die durch Krankheiten ausgelöst wird. Deswegen betrachten wir solche Coachings differenzierter“, so die Hallesche.

Auch die Axa hatte im ersten Test dem Musterkunden den PKV-Abschluss verwehrt, um sich anschließend zu korrigieren. Demnach sei eine Annahme entgegen der ersten Einschätzung „grundsätzlich ohne Ausschlüsse und Risikozuschläge möglich“. Allerdings lehnt die Axa Stefan auch im aktuellen Test ab. „Leider wurde der Fall 4 erneut nicht korrekt bewertet. Wir bedauern, dass wir hier nicht die richtige Entscheidung getroffen haben“, antwortet das Unternehmen selbstkritisch.

Tendenz zur Trendwende?

Zumal die Axa sowohl bei Maria (Psychotherapie) als auch bei Nina (Paartherapie) aktuell tatsächlich anders entschieden hat. „Nach Ihrer Berichterstattung im vergangenen Jahr haben wir unsere operativen Einheiten für das Thema weiter sensibilisiert“, so der Versicherer. Man sei sich der gesellschaftlichen Entwicklungen in Bezug auf die mentale Gesundheit bewusst und habe „individuelle Ausnahmemöglichkeiten“ für Paartherapie und Coaching geschaffen. „Wir haben inzwischen erneut intern für das Thema sensibilisiert, damit in Zukunft solche individuellen Fehler vermieden werden.“

Als einziger der angefragten vier Versicherer würde die Arag dem Musterkunden den Abschluss einer privaten Krankenversicherung „ohne Erschwernis“ anbieten. Der Anbieter sticht auch insgesamt mit veränderten Entscheidungen hervor: Drei Musterkunden gewährt der Versicherer den Versicherungsschutz, lediglich bei Anna (Verhaltenstherapie) wird ein Arztbericht eingefordert. Darauf angesprochen, was die Arag grundlegend verändert hat und warum, heißt es: „Die Annahmerichtlinien eines Versicherers sind kein starres Konzept, sondern werden in allen Themenbereichen ständig weiterentwickelt. Nur so kann auch dem medizinischen Fortschritt und auch neuen risikorelevanten Entwicklungen Rechnung getragen werden. Es kann zu Verschärfungen in der Einschätzung aber auch zu Lockerungen führen.“

Nach dem ersten Test hatte Glorius noch eine Verschlechterung der Situation für Kunden beobachtet. So hatten manche Versicherer acht statt vorher fünf Jahre rückwirkend nach psychischen Vorerkrankungen gefragt. Sind die aktuellen Verbesserungen ein Anzeichen für eine Trendwende? „Insgesamt hat sich noch wenig verändert“, resümiert Glorius. „Positiv im Sinne der Kundschaft hat sich aber die Arag entwickelt. Allerdings müssen Kunden damit rechnen, dass der Versicherer viele Risiken nicht absichert.“

Dennoch sieht sie die Arag als Vorreiter für eine grundlegende Veränderung: „Es muss immer einen Versicherer geben, der etwas anders macht. Dann ziehen andere nach.“ Die veränderte Annahmepolitik kann als Signal an den Markt gewertet werden. Selbst wenn es, wie Glorius vermutet, noch ein paar Jahre dauern könnte, bis die Mehrheit der Versicherer auch Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht mehr per se vom PKV-Wechsel ausschließen: Der Anfang ist gemacht.