BU-Risikoprüfer im Interview

„Psychotherapien sind kein pauschales Ablehnungskriterium mehr“

Menschen mit psychischen Vorerkrankungen haben oft keine Chance auf eine BU. Das will die Bayerische ändern. Wie genau und welchen Effekt das auf die Arbeit der Makler haben soll, erklärt Stefan Günther, Leiter Medizinische Risiko- und Leistungsprüfung bei der Bayerischen.

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13:02 Uhr | 07. Februar | 2023
Stefan Günther, Leiter Medizinische Risiko- und Leistungsprüfung bei der Bayerischen

Die Bayerische hat den Prozess zur BU-Risikovoranfrage verändert, damit auch Interessenten mit Psychotherapie-Erfahrung ihre Arbeitskraft absichern können, erklärt Stefan Günther, Leiter Medizinische Risiko- und Leistungsprüfung bei der Bayerischen.

| Quelle: Bayerische

procontra: Sie wollen den Prozess zur Risikovoranfrage (RVA) grundlegend verändern. Warum?

Stefan Günther: Wir erleben sehr oft, dass auf Seite der Interessenten als auch der Vermittler eine Scheu vor der Voranfrage besteht, wenn in der Vergangenheit eine Therapie gemacht wurde. Besonders bei jüngeren Menschen nimmt der Bedarf an therapeutischer Unterstützung zu. Das darf nicht dazu führen, dass diese Personen keinen BU-Versicherungsschutz mehr bekommen können. Unsere Initiative zielt darauf ab, potenziellen Kunden und Vermittlern zu zeigen, dass Psychotherapien kein pauschales Ablehnungskriterium mehr sind.

procontra: Sie wollen auch die Anzahl der Voranfragen steigern. Ist der BU-Vertragsbestand durch die Zunahme an Interessenten mit psychischen Erkrankungen denn zurückgegangen?

Günther: Nein, zwischen 2017 und 2021 haben wir die Anzahl an BU-Verträgen um 34 Prozent gesteigert.

procontra: Was genau haben Sie bei der Risikovoranfrage (RVA) verändert?  

Günther: Wir bewerten die Einzelfälle und die Therapievergangenheit individueller. Das kostet mehr Zeit und erfordert die Unterstützung einer fachkundigen Psychologin. Wir binden sie bereits im Rahmen des Risiko-Voranfrageprozesses ein. Damit Kunden die Erfolgswahrscheinlichkeit eines Antrages besser einschätzen können, bieten wir außerdem einen Online-Schnelltest, den „Quick Check“, an. Ohne persönliche Daten hinterlassen zu müssen, können potenzielle Kunden so eine Tendenz darüber erhalten, wie wahrscheinlich eine Risikovoranfrage entschieden werden würde. Je nach Auswertung können dann Makler und Kunde entscheiden, ob sie eine RVA oder direkt einen Antrag zur weiteren Prüfung einreichen.  

procontra: Wie wurde die Prüfung einer RVA bisher vorgenommen? Hat ein automatisiertes System die Anfragen „ausgesiebt“, damit die Risikoprüfer nur diejenigen Anfragen erreichen, die es durch das System geschafft haben?

Günther: Nein, wir prüfen schon immer individuell. Das System sortiert aus Datenschutzgründen lediglich Risiko-Voranfragen aus, die nicht anonymisiert und ohne die notwendigen Schweigepflichtentbindungserklärungen geschickt worden sind.

Häufigste Ursachen für Berufs- und Erwerbsunfähigkeit

Die häufigste Ursache für eine Berufsunfähigkeit sind psychische Erkrankungen.

| Quelle: GDV

procontra: Sie wollen Ihre Risikoprüfer beraten und coachen lassen. Mit welchem Ziel?

Günther: Alle Personen, die in die Prüfung und Kommunikation der individuellen Fälle eingebunden sind, sollen sich noch intensiver als bisher mit dem Thema psychische Erkrankungen und Behandlungen auseinandersetzen. Wir bieten Informationen, Hilfestellung und Coachings an. Unsere Risikoprüfer werden durch eine Psychologin unterstützt, damit sie die Risiken differenzierter einschätzen können. Sollte ein Antrag abgelehnt werden oder eine Risikoprüfung trotz der eingereichten Informationen nicht möglich sein, bieten wir dem Kunden ein persönliches Gespräch mit einer Psychologin an. Das könnte zu einer erneuten Prüfung des Risikos führen. Auf diese Weise wäre auch ein anderes Ergebnis denkbar. Natürlich prüfen wir auch, ob in Einzelfällen statt einer Ablehnung oder einem Vertrag mit Leistungsausschluss eine Berufsunfähigkeitsversicherung mit Risikozuschlag oder sogar zu normalen Bedingungen möglich ist, oder aber eine alternative Absicherung über eine Grundfähigkeitenversicherung.     

procontra: Ist davon auszugehen, dass ein potenzieller Neukunde der Therapeutin „reinen Wein“ einschenkt, wenn sie anschließend an die Bayerische berichtet?

Günther: Kein potenzieller Neukunde hat am Ende etwas davon, wenn er uns Informationen vorenthält. Wir möchten durch den veränderten Prozess dafür sorgen, dass es keine große Überwindung kostet, in der Prüfung „die Hosen runterzulassen“. Wir erhalten im Übrigen auch keine Informationen über die Inhalte eines solchen Gesprächs. Letztlich geht es darum, die oft wenig aussagekräftigen Angaben aus dem Versicherungsantrag mit psychotherapeutischen Fachleuten weiter zu vertiefen. Die Psychologin spricht dann eine Empfehlung aus. Der Informationsgewinn könnte zu einem besseren Risikoprüfungsergebnis führen.

procontra: Ein Problem ist dabei, dass Interessenten dann einen verbindlichen Antrag stellen müssen. Makler wollen aber die Anonymität ihrer Kunden schützen.

Günther: Das Angebot eines persönlichen und absolut vertraulichen Gesprächs lässt sich nur durch einen Antragsprozess realisieren. Und ja, natürlich: Um das zu ermöglichen, müssen uns Kontaktdaten und das Einverständnis des Interessenten vorliegen.

procontra: Nur dürfte es der Interessent im Fall einer Ablehnung schwer haben, bei einem anderen Versicherer den BU-Schutz zu bekommen. Schließlich muss eine vorherige Ablehnung in einem weiteren Antrag angegeben werden.

Günther: Seien wir einmal ehrlich: Es handelt sich hier doch um Neukunden, die aufgrund der psychischen Vorerkrankungen schwer oder keinen Versicherungsschutz gegen Berufsunfähigkeit bei anderen Versicherern erhalten. Insofern sehen wir hier keinen Nachteil, ganz im Gegenteil. Wir möchten Menschen, die wahrscheinlich bei anderen Anbietern keinen Versicherungsschutz bekommen würden, den Zugang zum Versicherungsschutz ermöglichen.

Wir können nicht auf einmal alle psychisch Erkrankten annehmen.
Stefan Günther, Leiter Medizinische Risiko- und Leistungsprüfung bei der Bayerischen

procontra: Unter welchen Voraussetzungen können Menschen mit vergangenen psychotherapeutischen Behandlungen dennoch bei Ihnen eine BU abschließen?

Günther: Warum „dennoch“? Eine erfolgreiche Therapie bedeutet in den meisten Fällen mehr Resilienz, mehr Widerstandskraft und ein geringeres Risiko psychosomatischer Erkrankungen. Wenn wir in der Risikoprüfung zu dem Schluss kommen, dass ein potenzieller Kunde sich im entsprechenden Risikokorridor für die Aufnahme befindet, freut uns das sehr. Wir sind uns aber auch darüber im Klaren, dass es sich weiterhin um eine schwierige Prüfung handelt und wir durch unsere Psychotherapeutin nicht auf einmal alle psychisch Erkrankten annehmen können.  

procontra: Welche Unterschiede werden in der Risikoprüfung gemacht, wenn ein Interessent eine Psycho-, Verhaltens- oder Paartherapie oder ein Coaching in Anspruch genommen hat?

Günther: Pauschalaussagen, ob und unter welchen Voraussetzungen Anträge angenommen oder abgelehnt werden, sind nicht möglich. Schließlich kann eine Verhaltenstherapie in der Behandlung von Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen, aber eben auch bei Suchterkrankungen zum Einsatz kommen. Ein medizinisches Coaching soll hingegen langfristige positive Veränderungen in der Lebensweise ermöglichen oder Stressfaktoren minimieren. Behandlungsformen und Ursachen müssen immer einzelfallabhängig geprüft werden.procontra: Wie oft sind es psychische Erkrankungen, die bei Ihnen einen Leistungsfall auslösen?

Günther: Im Durchschnitt der vergangenen Jahre sind es zwischen 30 und 40 Prozent.

procontra: Die Psyche ist der Hauptauslöser für eine Berufsunfähigkeit. Haben Sie keine Sorge, dass die Schadenquote steigt, wenn Sie die Annahmepolitik lockern?

Günther: Wir gehen davon aus, dass erfolgreich therapierte Personen widerstandfähiger und resilienter gegenüber psychischer Belastung sind. Insgesamt rechnen wir damit, dass die Initiative auch in wirtschaftlicher Hinsicht ein Erfolg wird.