„Sobald der BU-Leistungsfall teuer wird, wird von den Versicherern gemauert“
Laut einer aktuellen Untersuchung von Franke und Bornberg liegt die Anerkennungsquote bei Berufsunfähigkeitsversicherungen (BU) bei 80 Prozent. Das deckt sich mit Erkenntnissen des Branchenverbands GDV und klingt erst einmal gut.
Schaut man jedoch genauer hin, so zeigt sich, dass in vielen Fällen nach einer Antragstellung keine Zahlung erfolgt, weil Versicherte die Kommunikation mit ihrem Anbieter abbrechen. Laut dem Analysehaus Morgen & Morgen betrifft das rund 40 Prozent der Fälle. Die Gründe für diese hohe „Abbruchrate“ bei der Beantragung einer BU-Rente mögen vielfältig sein, sicherlich spielt dabei aber auch die Komplexität der Materie eine große Rolle.
Über diese und weitere Themen sprachen wir mit Bernhard Rauch aus Bodenmais, der als Rechtsdienstleister („Der Leistungsmanager") unter anderem Kunden bei der Durchsetzung von Leistungsansprüchen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung unterstützt.
procontra: Herr Rauch, Sie betreuen Kunden bei der Durchsetzung von BU-Leistungsansprüchen: Machen Sie dabei die Erfahrung, dass berechtigte Ansprüche bewusst verzögert werden? Und wenn ja, wie häufig sind solche Fälle?
Bernhard Rauch: Unsere Erfahrung zeigt, dass Leistungsprüfungen besonders lange dauern, wenn hohe Zahlungen für die Versicherung anfallen, etwa bei jüngeren Versicherten mit unbefristeten Leistungen. Ein Beispiel: Unser Mandant hatte drei BU-Verträge. Die kleineren Renten – 260 und 550 Euro – wurden schnell bewilligt, die größere Rente –1.000 Euro bis 67 Jahre – hingegen zog sich über Monate. Ein Telefonat mit der Leistungsprüferin hatte folgenden Inhalt: „Sie wissen aber schon, dass die beiden anderen Versicherungen bereits seit Monaten leisten?“ Darauf die Dame der Versicherung… „ja, aber Sie wissen auch, dass wir 1.000 Euro zahlen sollen und die anderen viel weniger?“
Diese Vorgehensweise zieht sich wie ein roter Faden durch alle Leistungsfälle. Sobald der Leistungsfall teuer wird, wird gemauert.
procontra: Würden Sie sagen, dass das ein generelles Vorgehen ist, oder reden wir hier von einzelnen schwarzen Schafen der Branche? Immerhin werden laut GDV 80 Prozent aller Anträge bewilligt.
Rauch: Grundsätzlich handelt es sich beim GDV e.V. um einen Branchen- und Interessensverband der Versicherungen. Die Angaben zur Leistungsquote von 80 Prozent basieren auf einer bloßen Umfrage – nicht auf einer verifizierbaren Studie. Das begründet auch die großen Unterschiede zu den regelmäßigen Studien von Morgen & Morgen und erntet regelmäßig sehr viel Kritik.
Der GDV gibt nicht an, ob die ausgewiesene Leistungsquote ausschließlich für jene Fälle gilt, in denen sämtliche Rückfragen der Versicherung vollständig geklärt wurden. Wichtig dabei: Aufgrund unbeantworteter Rückfragen werden rund 37 Prozent aller Leistungsanträge abgelehnt. Berücksichtigt man diesen Umstand, sinkt die tatsächliche Leistungsquote schnell auf unter 50 Prozent, was ein äußerst negatives Bild der Berufsunfähigkeitsversicherung zeichnen würde.
Alles in allem würde ich hier schon von einem erkennbaren Muster ausgehenBernhard Rauch
BU-Rechtsdienstleister
Wir könnten diese Statistik noch detaillierter aufschlüsseln, indem wir die Anerkennungsquote nach Vertragsdauer oder Alter der Versicherten betrachten. Zum Beispiel liegt die Anerkennungsquote bei einem 57-jährigen Versicherten, der bis zu seinem 60. Lebensjahr versichert ist, bei uns fast bei 100 Prozent. Das liegt daran, dass der Gesamtschaden für die Versicherung bei Berufsunfähigkeitsverträgen in diesem Alter relativ gering ist. Alles in allem würde ich hier schon von einem erkennbaren Muster ausgehen.
procontra: Welche Strategien wenden Versicherer an, um die Bewilligung von Leistungsansprüchen zu verzögern? Gibt es wiederkehrende Argumentationen, mit denen Ablehnungen oder „neue“ Nachforderungen begründet werden.
Rauch: Der Versicherer hat leider unzählige Möglichkeiten, den Leistungsfall hinauszuzögern. Ein zentrales Mittel ist die nahezu unbegrenzte Anforderung von Informationen, Dokumenten und Nachweisen, die angeblich für die Beurteilung des Leistungsfalls notwendig sind. Im Rahmen der Mitwirkungspflicht muss der Versicherungsnehmer alles beibringen.
Hier hat übrigens der „Verbraucherschutz“ den Versicherten einen Bärendienst erwiesen. Durch die neue – aus meiner Sicht – absolute Überregulierung und Beschränkung der Datenweitergabe im Rahmen der DSG-VO, insbesondere im Medizinischen Bereich, sind häufig Kunden für das Beibringen von Patientenakten, Gutachten oder Facharztberichten selber verantwortlich. Viele Kunden wissen gar nicht, wo Sie diese Unterlagen herbekommen oder sehen sich mit der Verweigerung der Herausgabe konfrontiert. Das ist ein häufiger Grund, warum Kunden verzweifeln und ihre Leistungsansprüche „aufgeben“.
Darüber hinaus dient das Thema der Begutachtung häufig als Instrument, um Leistungsfälle über Jahre hinweg auszudehnen. Insbesondere bei den häufig auftretenden Ursachen von Berufsunfähigkeit, wie psychischen und neurologischen Beeinträchtigungen, werden oft mehrere Gutachten erstellt.
Allerdings werden auch einfach Fälle liegen gelassen. Dass lässt sich wahrscheinlich darauf zurückführen, dass auch die Versicherungsbranche ein großes Fachkräfte-Problem hat. Leistungsbearbeiter benötigen Kenntnisse sowohl im versicherungsfachlichen-, aber auch im allgemeinen wirtschaftlichen sowie insbesondere medizinischen Gebiet. Mitarbeiter mit dieser Qualifikation zu finden, kann ich mir sehr schwierig vorstellen.
procontra: Können Sie uns ein typisches Beispiel aus Ihrer Beratungspraxis nennen?
Ein typisches Beispiel hierfür ist die Anforderung einer 19 Jahre alten Patientenakte von einer Kinderärztin, die bereits verstorben ist, oder das schulische Abschlusszeugnis eines 56-Jährigen zuzüglich Ausbildungsnachweis.
Auch in einem aktuellen Fall zeigte sich ein typisches Vorgehen von Versicherern. Nachdem ein Vergleichsangebot abgelehnt wurde, forderte der Versicherer plötzlich erneut Unterlagen und Einkommensnachweise sowie zusätzliche Informationen zur beruflichen Tätigkeit an. Außerdem sollte ein weiteres Gutachten erstellt werden. Das Überraschende daran: Der Versicherer hatte bereits zwölf Monate lang geprüft und alle relevanten Unterlagen vorliegen, die Grundlage für das ursprüngliche Vergleichsangebot waren.
Trotz der zügigen Bereitstellung aller geforderten Unterlagen und der Beantwortung sämtlicher Rückfragen innerhalb von zwei Wochen – am 13. März – blieb der Versicherer danach stumm. Weder schriftliche Nachfragen noch zahlreiche telefonische Kontaktversuche führten zu einer Reaktion. Erst nach der Einleitung eines Ombudsmannverfahrens meldete sich der Versicherer am 6. Juni, also knapp 3 Monate später, mit einer Entschuldigung. In dem Schreiben hieß es, der Fall sei „versehentlich terminiert anstatt bearbeitet“ worden – was auch immer das genau bedeuten soll.
procontra: Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht die BaFin in diesem Kontext?
Die Aufforderung der BaFin an Versicherer, Schadensfälle innerhalb von vier Wochen zu bearbeiten, ist prinzipiell zu begrüßen. Allerdings bedarf es einer differenzierten Betrachtung:
Für Kfz-Haftpflichtschäden ist eine Bearbeitungsdauer von maximal vier Wochen angemessen und realistisch – hier stimme ich der BaFin uneingeschränkt zu. Im Gegensatz dazu sind BU-Leistungsfälle komplexer, sodass Bearbeitungszeiten von sechs bis zwölf Monaten nachvollziehbar sind. Obwohl sich dieser Zeitraum lange anhört und viele Vermittler dies unangebracht finden, stellt dies in vielen Fällen überhaupt kein Problem dar – unter anderem wegen Lohnfortzahlung und Krankengeld bis zu 78 Wochen, was eineinhalb Jahren entspricht. Ferner werden Leistungen ab BU-Eintritt gezahlt, somit auch rückwirkend.
Die BaFin ist gefordert, klare Standards zu setzen und Verstöße konsequent zu sanktionierenBernhard Rauch
BU-Rechtsdienstleister
Problematisch wird es jedoch, wenn Versicherungsunternehmen über Monate hinweg keinerlei Rückmeldung geben. In solchen Fällen sollte die BaFin aktiv eingreifen und gegebenenfalls Sanktionen verhängen. Es stellt sich die Frage, ob manche Unternehmen noch den Anforderungen an einen „in wirtschaftlicher Art und Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb“ gerecht werden.
Hier ist die BaFin gefordert, klare Standards zu setzen und Verstöße konsequent zu sanktionieren: So sollte sie zum Beispiel wissenschaftliche Studien zum Thema Leistungsquoten durchführen, um „echte“ Zahlen zu bekommen.
procontra: Welche gesetzlichen oder aufsichtsrechtlichen Reformen wären Ihrer Meinung nach notwendig, um die Rechte der Kunden zu stärken?
Es sollte eine maximale Prüfungsdauer festgelegt werden, in welcher Fristen klar definiert werden. Die derzeitige Regelung bezieht sich nur auf die Fälligkeit („…sobald die Erhebungen … abgeschlossen sind“), ohne konkret zu werden. Das gibt den Versicherungen die angesprochene „unendliche“ Prüfzeit.
Im Zuge dessen sollte die Anzahl der Rückfragen maximiert werden – zum Beispiel drei konkrete Rückfragen – und unstreitige Teilansprüche sollten sofort zu zahlen sein.
Abschließend wären privatrechtliche Sanktionen wie Vertragsstrafen wünschenswert, wenn Versicherer ihre eigenen AGB nicht einhalten. In vielen BU-Bedingungen verpflichten sich Versicherer, ihre Kunden spätestens alle vier Wochen über den Stand der Leistungsprüfung zu informieren. Ich würde sagen, dass derzeit über 70 Prozent aller BU-Versicherer wegen des Fachkräftemangels dazu nicht in der Lage sind.
Es kann aber nicht sein, dass man im Verkauf dem Kunden schöne Versprechungen macht, welche dann nicht eingehalten werden, ohne dass es für die Versicherung Konsequenzen gibt. Dazu sollte es Vertragsstrafen in Höhe von mindestens 5.000 Euro geben, die dem Kunden pro Fall und sofort auszuzahlen sind. Das wäre eine entsprechende Motivation, die Leistungsprüfung entsprechend voranzutreiben.
procontra: Wie können Makler ihre Kunden bei der Durchsetzung von Leistungsansprüchen besser unterstützen?
Das kann man mit den drei häufigsten Ablehnungsgründen bei beantragten BU-Leistungen erklären: 37 Prozent bekommen eine Ablehnung, weil Sie nicht mehr reagieren (können), 35 Prozent erreichen (angeblich) den 50 Prozent-BU-Grad nicht und 13 Prozent sind Anzeigepflichtverletzungen inklusive Anfechtungsfälle.
Mein Tipp: Vermittler sollten sich vor allem auf die vorvertraglichen Anzeigepflichtverletzungen konzentrieren, da diese ein häufiger Grund für die Ablehnung von „jungen“ BU-Verträgen sind. Versicherer können in den ersten 10 Vertragsjahren Leistungen verweigern, wenn die Fragen im Antrag, insbesondere im medizinischen Bereich, nicht korrekt beantwortet wurden.
Während die Verwendung von Patientenakten im Rahmen der Antragstellung umstritten ist, ziehen es immer mehr spezialisierte BU-Vermittler vor, diese einzubeziehen. Dies hilft bei der Erfassung vergangener Behandlungen und kann spätere Streitigkeiten über Diagnosen vermeiden. Eine sorgfältige Antragstellung reduziert die Wahrscheinlichkeit von Problemen im Leistungsfall.
Ein weiterer Punkt: Viele Versicherte erreichen die 50 Prozent-Schwelle, können es aber schlicht nicht beweisen. Das hängt an den sehr umfangreichen Darlegungspflichten der „zuletzt ausgeübten Tätigkeit“. Fehler im Leistungsantrag bei diesem Punkt können später fast nicht mehr ausgebügelt werden. Deshalb sollten Vermittler sich professionelle Hilfe holen. Das können spezialisierte Versicherungsberater, Rechtsdienstleister oder Anwälte sein. Gerade bei der Erstellung der Tätigkeitsbeschreibung sollte ein Schwerpunkt liegen.