Arbeitskraftabsicherung trotz Psychotherapie

BU-Schutz mit Macke(n)

Menschen mit psychischen Vorerkrankungen hatten bislang kaum Chancen auf eine Berufsunfähigkeitsversicherung. Das wollen Versicherer nun ändern – mit Folgen für die Voranfrage.

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09:02 Uhr | 06. Februar | 2023
BU-Versicherer bieten den Schutz auch für Menschen mit psychischen Vorerkrankungen an - allerdings hat die Deckung Lücken

Bei vielen BU-Versicherern führt eine attestierte psychische Störung zu einer Ablehnung oder einem Leistungsausschluss. Das wollen die Anbieter nun ändern.

| Quelle: Er09

„Ich war beim Psychotherapeuten.“ Ein Satz, der in der Öffentlichkeit schon lange nicht mehr für betretenes Schweigen oder üble Nachrede sorgt. Wer allerdings bestimmte Versicherungen abschließen möchte, hat oft schlechte Karten. Nicht nur Anbieter privater Krankenversicherungen wehren Interessenten mit psychischer Vorerkrankung ab (procontra-Ausgabe 5/2022). Auch der Weg zu einer Arbeitskraftabsicherung war bisher mitunter steinig. Kein Wunder, schließlich sind psychische Erkrankungen mit knapp 30 Prozent die Ursache Nummer eins für eine Berufsunfähigkeit. Doch sollte nicht gerade deshalb ein Weg zur Absicherung ermöglicht werden? „Bei vielen BU-Versicherern führt eine angegebene F-Diagnose, also eine attestierte psychische Störung, häufig zu einer Ablehnung oder einem Leistungsausschluss“, kritisiert Gerd Kemnitz, Versicherungsmakler mit Fokus auf Berufsunfähigkeitsversicherungen.

Dass Versicherer aber selbst Kritik an ihrer bisherigen Praxis üben, ist neu. „Es kommt vor, dass Menschen, die in Therapie waren oder sind, diese wichtige Versicherung gar nicht mehr bekommen“, gibt Martin Gräfer, Vorstand der Bayerischen, zu. Häufig werden die Interessenten bei der Risikoprüfung der Versicherer aussortiert, sie fallen durch das Raster der Wunschprofile.

Es kommt vor, dass Menschen, die in Therapie waren oder sind, diese wichtige Versicherung gar nicht mehr bekommen.
Martin Gräfer, Mitglied des Vorstands bei der Bayerischen

Das will die Bayerische nun ändern. Sie will zeigen, dass eine Psychotherapie kein pauschales Ausschlusskriterium mehr ist. Zumal die hohe Messlatte der Versicherer offenbar die Anzahl der Risikovoranfragen mindert. „Wir erleben sehr oft, dass auf Seite der Interessenten als auch der Vermittler eine Scheu vor der Voranfrage besteht, wenn in der Vergangenheit eine Therapie gemacht wurde“, berichtet das Unternehmen.  

Mehr Vertragsabschlüsse durch geschulte Prüfer?

Um das zu ändern, will der Versicherer seine Risikoprüfer besser schulen. „Alle Personen, die in die Prüfung und Kommunikation der individuellen Fälle eingebunden sind, müssen sich noch intensiver als bisher mit der Materie auseinandersetzen“, erklärt die Bayerische. Das bedeutet konkret: Risikoprüfer können sich künftig mit Fokus auf seelische Krankheitsbilder coachen und professionell beraten lassen. Damit sollen sie Beschwerden, Vorerkrankungen und mögliche Risiken besser einschätzen können. Und im Zweifel zu einem für Kunden und Makler positiven Votum kommen.

Doch schon im Vorfeld können potenzielle Neukunden selbst einen Schnelltest online vornehmen – und zwar, ohne persönliche Daten anzugeben. Damit können sie sich eine unverbindliche Einschätzung einholen, inwiefern sie überhaupt Chance auf eine Arbeitskraftabsicherung haben. Und tatsächlich scheint der Schutz für einen Interessenten mit Therapieerfahrung nicht aussichtslos zu sein: Wer innerhalb der vergangenen fünf Jahre eine Therapie in Anspruch genommen hat, wird als nächstes gefragt, ob er wegen psychischer Beschwerden über 30 Tage krankgeschrieben war. War das nicht der Fall, fragt das System, ob es in den vergangenen drei Jahren einen stationären Klinikaufenthalt gab und ob eine Suchterkrankung vorlag. Wer die letzten drei Fragen mit „nein“ beantwortet, hat gute Voraussetzungen bei der Risikovoranfrage.

Stellt der Interessent anschließend einen verbindlichen Antrag, erhält aber dennoch eine Ablehnung, wird ihm ein Gespräch mit einer Psychologin angeboten. Allerdings nur in Einzelfällen und auf ausdrücklichen Wunsch. Die Bayerische verspricht sich davon „ergänzende Angaben, die eine nochmalige Prüfung des Risikos ermöglichen“. Die psychologische Fachkraft entscheidet jedoch nicht über die Annahme, sie soll ausschließlich eine Empfehlung geben. „Es geht vor allem darum, im Gespräch die oftmals wenig aussagekräftigen Angaben aus dem Versicherungsantrag im Dialog mit psychotherapeutischen Fachleuten weiter zu vertiefen,“ erklärt das Unternehmen. Der Informationsgewinn könne zu einem besseren Risikoprüfungsergebnis führen.

Alternativen zur BU

BU-Makler Kemnitz begrüßt den bayerischen Weg zu einer höheren Absicherungsquote, weist aber auch darauf hin: „Die Bayerische will das Gespräch mit einem Therapeuten ausdrücklich nur Neukundinnen und Neukunden anbieten.“ Der Interessent muss also erst Kunde werden und einen verbindlichen Antrag stellen, wie die Bayerische auf Nachfrage bestätigt. „Dann dürfte diese Vorgehensweise in der Zusammenarbeit mit Versicherungsmaklern nicht klappen“, so Kemnitz. Denn Makler wollen die Anonymität ihrer Mandanten schützen. Das ist mit einem Antrag, in dem Vor- und Nachname eingetragen werden müssen, aber nicht möglich.

Und was passiert, wenn auch ein solches Gespräch zu keinem positiven Ergebnis führt? „Wird der Versicherer dann eigenmächtig hauseigene Notlösungen, sprich: Grundfähigkeitsversicherungen, anbieten? Oder überlässt er es dem ursprünglichen Vermittler, die Versicherbarkeit bei anderen BU-Versicherern zu prüfen?“, fragt der Experte. Tatsächlich wolle die Bayerische nach eigener Aussage prüfen, ob sie dann einen Vertrag mit Ausschlussklausel beziehungsweise mit Risikozuschlag oder eine Grundfähigkeiten-Versicherung anbieten kann. „Durch unsere psychologische Psychotherapeutin können wir nicht auf einmal alle psychisch Erkrankten annehmen“, räumt das Unternehmen ein.

Durch unsere psychologische Psychotherapeutin können wir nicht auf einmal alle psychisch Erkrankten annehmen
Risikoprüfer, Bayerische

Die Bayerische rechnet dennoch damit, dass die Initiative ein Erfolg wird. Wenn das Vorhaben tatsächlich eine grundlegende Veränderung der Risikoprüfung und Annahmepolitik nach sich zieht, würde das den bisherigen Trend bestätigen. Denn bei immer mehr Versicherern scheint die rigorose Ablehnungspolitik der Vergangenheit anzugehören.

Die Entscheidung bleibt schwierig

Auch die Baloise wehrt Interessenten mit Therapieerfahrung oder sogar mit einer bestehenden Erkrankung nicht mehr sofort ab. „Früher haben wir schneller abgelehnt. Wer heute mit einer leichten Depression trotzdem arbeitsfähig ist, dem bieten wir einen Ausschluss an. Dann muss der Kunde entscheiden, ob er bereit ist, die volle Prämie zu bezahlen“, sagt Michael Kowol, Abteilungsleiter Underwriting/Leistung bei der Baloise (siehe Interview). Oft könne er zumindest eine Grundfähigkeit als Alternative anbieten. Bei dem Unternehmen sehen sich geschulte Risikoprüfer jede Voranfrage individuell an. Dennoch bleibt die Entscheidung schwierig. „Ich bin selbst oft hin- und hergerissen“, gibt Kowol zu.  

Und immer mehr Menschen haben ja auch tatsächlich eine psychische (Vor-)Erkrankung. Andere wiederum gehen nur vorsorglich zum Therapeuten. Makler monieren immer wieder, die Versicherer würden außer Acht lassen, dass eine Psychotherapie präventiv vor schweren Erkrankungen schützen kann. Eine Erkenntnis, die sich nun offenbar auch den Versicherern erschließt: „Eine erfolgreiche Therapie bedeutet in den meisten Fällen mehr Resilienz, mehr Widerstandskraft und ein geringeres Risiko für psychosomatische Erkrankungen.“ Risikoprüfer Kowol sieht das ähnlich. Für Kunden sei es mittlerweile normal zum Therapeuten zu gehen. „Aber, wenn innerhalb des Abfragezeitraums etwas war, müssen wir uns das Risiko sehr gut überlegen. Das ist das Spannungsfeld, in dem wir agieren.“

Das größte BU-Risiko – psychische Erkrankungen – versichern zu wollen bleibt eine Herausforderung. Dass Versicherer aber versuchen, in Einzelfällen stärker abzuwägen und das einstige Tabuthema zu entstigmatisieren, deutet auf einen grundlegenden Wandel hin – von dem Kunden und Makler gleichermaßen profitieren könnten.