LV-Widerruf: Rückabwicklung auch 4 Jahre nach Vertragsende nicht ausgeschlossen
Das sogenannte ewige Widerrufsrecht räumt den Inhabern von Lebensversicherungen offenbar grenzenlose Möglichkeiten zur Rückabwicklung ihrer Verträge ein. Zumindest darf ein Gericht auch vier Jahre nach dem vereinbarten Ablauf der Police nicht davon ausgehen, dass ein Widerruf der längst abgelaufenen und ausgezahlten Lebensversicherung rechtsmissbräuchlich sei und gegen Treu und Glauben verstoße. Das hat der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz am 22.07.2022 per Beschluss entschieden (Az.: B 70/21).
Im vorliegenden Fall hatte ein Mann im Jahr 2016 seinen Lebensversicherungsvertrag widerrufen. Diesen hatte er im Jahr 2002 abgeschlossen und ein Vertragsende im März 2012 vereinbart. Dennoch wollte er die Police vier Jahre später rückabwickeln lassen und bezog sich dabei auf eine damals fehlerhafte Widerspruchsbelehrung durch den Lebensversicherer. Nachdem dieser nicht einlenken wollte, zog er zunächst vor das Landgericht Trier, das seine Klage jedoch abwies. Auch seine Berufung vor dem Oberlandesgericht Koblenz hatte keinen Erfolg. Dieses lehnte sein Ansinnen mit der Begründung ab (Beschluss vom 02.11.2021, Az.: 10 U 246/21), dass er den Vertrag auch über dessen Ablauf hinaus nicht in Frage gestellt hatte.
Nationale Gericht müssen EU-Recht anwenden
Doch auch nach dieser zweiten juristischen Klatsche wollte sich der Mann nicht geschlagen geben. Er legte Verfassungsbeschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz ein. Dieser entschied, dass der Versicherungsnehmer in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt worden sei. Das OLG habe demnach keine ausreichende Begründung dafür geliefert, warum der Widerruf des Mannes rechtsmissbräuchlich sei. Eine nicht ausreichende Begründung sei zwar grundsätzlich möglich. In solchen Fällen müsse das Fachgericht (hier das OLG) jedoch seit einer Entscheidung aus dem Jahr 2021 den Europäischen Gerichtshof (EuGH) einschalten. Dies hatte das OLG aber unterlassen.
Hintergrund: Der EuGH würde in solchen Fällen eine mögliche rechtsmissbräuchliche Wirkung des ewigen Widerrufsrechts nicht nur anhand von objektiven Kriterien beurteilen, sondern auch das subjektive Element des Einzelfalls prüfen.
Chance auf Widerruf bleibt bestehen
Das OLG Koblenz hatte jedoch auf die Prüfung dieses subjektiven Elements verzichtet und die Berufung des Mannes aufgrund von Rechtsmissbrauch abgelehnt. Das Verfassungsgericht betonte aber, dass es zweifelhaft sei, ob der Einwand des Rechtsmissbrauchs in Fällen unzureichender Belehrung über das Widerspruchsrecht unionsrechtlich überhaupt angewendet werden dürfe.
In der Folge wurde das Verfahren zur erneuten Entscheidung an das OLG zurückverwiesen. Zwar ist es weiterhin möglich, dass der Widerruf des Mannes letztendlich als rechtsmissbräuchlich eingestuft wird und ihm eine Rückabwicklung des Vertrages verwehrt bleibt. Ob dem so ist, muss das OLG Koblenz nun aber unter exakter Anwendung des europäischen Unionsrechts beurteilen.