Die demografische Entwicklung verlangt eigentlich längere Lebensarbeitszeiten, doch viele Kunden von Versicherungsmaklern treibt eher um, wie sie früher in Rente gelangen können und was das kostet (procontra berichtete). „Finanztest" hatte dazu im Sommer anhand von Musterrechnungen Rentenhöhe und Abschläge erläutert. Fazit: Früher in Rente kann man nach 35 Beitragsjahren, aber mit heftigen Abschlägen (0,3 Prozent für jeden Monat zu früh), ansonsten erst mit 45 Beitragsjahren (procontra berichtete).
Allerdings geht der Zug gesamtgesellschaftlich in die andere Richtung. Die Deutsche Bundesbank hat in ihrem Monatsbericht Oktober 20019 ausgerechnet, dass der Beitrag in der gesetzlichen Rentenversicherung wegen der Alterung der Bevölkerung bis 2070 auf 26 Prozent steigen wird. Als Schlussfolgerung aus der Prognose hatte die Bundesbank eine Erhöhung des Renteneintrittsalters bis 2070 auf 69 Jahre und vier Monate vorgeschlagen. Die Rente ab 70 wäre nicht mehr fern, zumindest für die Geburtsjahrgänge ab dem Jahr 2000.
Breite Ablehnung höheren Renteneintrittsalters
Wenig überraschend: Nahezu drei Viertel der Deutschen lehnen eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters ab, ergab eine Umfrage des Meinungsforschers Insa Consulere im Auftrag des Deutschen Instituts für Altersvorsorge (DIA) unter 2.000 Erwachsenen kurz nach Veröffentlichung der Bundesbankprognose. Demnach sind 73 Prozent der Befragten gegen eine Kopplung des Renteneintritts an die Entwicklung der Lebenserwartung, aber immerhin auch 14 Prozent Befragten dafür.
Überraschend: Die Zustimmung zur Rente mit 70 ist in der Altersgruppe der 30- bis 39-Jährigen am höchsten und bewegt sich zwischen zehn und 19 Prozent. Die Ablehnung steigt tendenziell bis zum Alter von 62 auf 82 Prozent, obwohl gerade die älteren Jahrgänge gar nicht von einer solchen Anhebung betroffen wären, da für sie überwiegend die Rente spätestens ab 67 gilt.
Auch keine Wählergruppe ist laut Umfrage mehrheitlich für eine Erhöhung des Renteneintrittsalter. Die größte Zustimmung kommt von den Wählern der FDP (29 Prozent), gefolgt von den Grünen-Wählern (22 Prozent) und den Unions-Wählern (19 Prozent). „Angesichts dieser Stimmung in der Wählerschaft ist es sehr unwahrscheinlich, dass Politiker tatsächlich den Mut finden werden, eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters ernsthaft in Betracht ziehen, so plausibel die Argumente dafür auch sein mögen“, erklärt DIA-Sprecher Klaus Morgenstern.
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Grundrenten-Debatte als Part schwierigerer Verteilung
Aktuell streitet sich die GroKO weiter über die Bedingungen einer Grundrente für jedermann oberhalb der Grundsicherung (procontra berichtete). Ohne Einkommensprüfung wird sie wohl nicht kommen. Und das ist auch gerecht, vor allem gegenüber kommenden Generationen. Bei der hitzigen politischen Debatte lohnt ein kühler Blick zurück in die Geschichte der internationalen Alterssicherung, die überhaupt erst 130 Jahre zurückreicht.
Otto von Bismarck verabschiedete 1889 in Deutschland die erste Altersversicherung der Welt. Arbeiter, die ihren 70. Geburtstag erreichten, wurden mit einer Pension belohnt. Allerdings erlebten nur wenige dieses damals reife Alter. Das Konzept Ruhestand fand im frühen 20. Jahrhundert viele Nachahmer in den industriellen Nationen, nicht jedoch in den USA.
Alterssicherung in den USA bricht weg
In Amerika dauerte es bis 1934, als der Arzt Francis Townsend den nach ihm benannten Plan umzusetzen half, der in mehreren Regionen Arbeitern ab 60 eine monatliche Pension von 200 Dollar bescherte. Ein Jahr später setzte der Kongress den Social Security Act um, nach dem in den gesamten USA künftige Ruheständler während ihres Berufslebens in einen Gemeinschaftsfonds einzuzahlen hatten. Fünf Jahre später wurde der erste „Sozialhilfescheck ausgezahlt – in Höhe von 22,54 Dollar an eine ehemalige Sekretärin.
Das US-amerikanische Modell gleicht seither einem „dreibeinigen Hocker“ aus Sozialversicherung, privaten Pensionen und einer Kombination aus Ersparnissen und Investitionen. „In den letzten Jahren sind zwei dieser Beine weggetreten worden“, schreibt Jessica Bruder in ihrem Buch „Nomaden der Arbeit“ (Blessing-Verlag). Das Vermögen wurde durch die „Great Recession“ und die Finanzkrise weitgehend vernichtet und die Arbeitgeber ersetzten weitgehend die von ihnen bezahlten leistungsbezogenen Pensionen durch „401(k)“-Pläne, die sich oft auf Beiträge der Arbeitnehmer stützen und vor deren Tod versiegen können.
Sozialhilfe und Zwang zum Weiterarbeiten jenseits von 65
Für die meisten Amerikaner ab 65 ist daher die Sozialhilfe mittlerweile die wichtigste Einkommensquelle, schreibt Bruder und stützt sich dabei auf zahlreiche wissenschaftliche Expertisen. Viele Ruheständler könnten ohne irgendeinen zusätzlichen Job, der für Ältere meist schlechter bezahlt wird, nicht überleben. „Fast neun Millionen US-Amerikaner ab 65 waren 2016 noch immer angestellt, 60 Prozent mehr als ein Jahrzehnt zuvor", lautet der desaströse Befund. Viele von denen konntern sich die Wohnungsmiete nicht mehr leisten und permanent leben in Wohnmobilen, Vans und Anhängern. Damit ziehen sie als Nomaden der Arbeit von einem Saisonjob zum nächsten - nicht selten bis 75 und länger.
Ruhestand sieht in Deutschland zum Glück noch anders aus, doch tendenziell sinkende gesetzliche Rente, weniger Vorsorgekraft durch immer mehr Niedriglöhne und fehlender Durchbruch im Betriebsrentensystem sind Symptome für einen schwierigen Weg bei der Alterssicherung. Die Überalterung der Gesellschaft verteuert das Rentensystem zusätzlich. Die Rente mit 70 erscheint dann doch irgendwann am Horizont. Unterschied zu Bismarcks Zeiten: Inzwischen wird die Mehrheit 85 und älter.
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