EuGH-Urteil bringt Gefüge der Gruppenversicherung ins Wanken

Wird ein Versicherungsnehmer einer Gruppenversicherung zum Vermittler, wenn er diese Police an andere gegen Provision verkauft? Der Europäische Gerichtshof hat diese Frage bejaht. Damit brauchen Anbieter nun eine Gewerbeerlaubnis. Bei Verstößen drohen nicht nur Bußgelder.

10:10 Uhr | 14. Oktober | 2022
EuGH-Urteil bringt bisheriges Gefüge der Gruppenversicherung ins Wanken  Bild: PeopleImages

Das EuGH-Urteil bringt das bisherige Gefüge der Gruppenversicherung ins Wanken. Versicherungsnehmer, die Verbrauchern Versicherungsschutz gegen Vergütung verschaffen, dürften zukünftig eine gewerberechtliche Erlaubnis benötigen. Bild: PeopleImages

Gruppenversicherungen sind weit verbreitet. Über sie lässt sich Versicherungsschutz häufig zu günstigeren Konditionen einkaufen, weil anstelle von vielen Einzelverträgen ein Gruppenversicherungsvertrag tritt. Das senkt Transaktions- und Verwaltungskosten. Besonders im Massengeschäft kann Versicherungsschutz nicht selten erst im Wege des Vertragsmodells der Gruppenversicherung rentabel angeboten werden.

In Deutschland waren sich Juristen über lange Zeit weitgehend einig: Der Versicherungsnehmer einer Gruppenversicherung (die „Gruppenspitze“) kann nicht zugleich Versicherungsvermittler sein. Doch ist das mit EU-Recht vereinbar? Jetzt hat der EuGH ein wegweisendes Urteil gefällt.

Anbieter hatte keine Gewerbeerlaubnis

Hintergrund ist eine wettbewerbsrechtliche Unterlassungsklage des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände gegen den Anbieter einer Gruppenversicherung.

Der Anbieter ist Versicherungsnehmer einer Auslandskranken- und Unfallversicherung. Er beauftragt Werbeunternehmen damit, über eine Haustürwerbung Verbrauchern gegen Entgelt den Beitritt zu dieser Gruppenversicherung anzubieten. Der Anbieter zahlt die Prämien an die Versicherungsgesellschaft. Die Kunden des Anbieters, die der Gruppenversicherung beitreten, zahlen dem Anbieter ein Entgelt.

Nach deutscher Gewerbeordnung bedarf derjenige, der gewerbsmäßig den Abschluss von Versicherungs- oder Rückversicherungsverträgen vermittelt, der Erlaubnis der zuständigen Industrie- und Handelskammer (§ 34d Absatz 1 GewO). Nun ist es aber so, dass weder der besagte Anbieter noch die von ihm beauftragten Werbeunternehmen über diese gewerberechtliche Erlaubnis verfügen. Der Verband wirft dem beklagten Anbieter deswegen vor, Versicherungsvermittlung ohne Erlaubnis zu betreiben. Entspricht also die Tätigkeit des beklagten Anbieters derjenigen eines erlaubnispflichtigen Versicherungsvermittlers?

Darum wird der Versicherungsnehmer zum Vermittler

Der EuGH entschied am 29. September 2022 (Az. C-633/20): Ein entgeltliches Angebot zum Beitritt in eine Gruppenversicherung stellt Versicherungsvermittlung beziehungsweise Versicherungsvertrieb dar.

Die Tätigkeit der Versicherungsvermittlung beziehungsweise des Versicherungsvertriebs umfasse das Beraten, Anbieten, Vorschlagen oder Durchführen anderer Vorbereitungsarbeiten zum Abschließen von Versicherungsverträgen, das Abschließen von Versicherungsverträgen oder das Mitwirken bei deren Verwaltung und Erfüllung, insbesondere im Schadensfall.

Das Anbieten eines freiwilligen Beitritts zu einem Gruppenversicherungsvertrag sei mit Tätigkeiten vergleichbar, die darauf gerichtet seien, dass Versicherungsnehmer mit einem Versicherer Versicherungsverträge abschließen. Dem stehe auch nicht entgegen, wenn der Anbieter selbst auch Versicherungsnehmer des von ihm vertriebenen Versicherungsschutzes sei.

Weitere Voraussetzung sei, dass die Tätigkeit der Versicherungsvermittlung gegen eine Vergütung ausgeübt wird. Im zugrundeliegenden Rechtsstreit lag diese Voraussetzung vor, denn jeden Beitritt zur Gruppenversicherung ließ sich der Anbieter bezahlen.

Gruppenversicherungs-Modelle müssen auf den Prüfstand

Das Votum des EuGH bringt das bisherige Gefüge der Gruppenversicherung ins Wanken. Für den B2C-Bereich gilt: Gruppenversicherungsnehmer, die Verbrauchern Versicherungsschutz unter ihren Versicherungsverträgen gegen Vergütung verschaffen, dürften zukünftig regelmäßig eine gewerberechtliche Erlaubnis gemäß § 34d GewO der zuständigen Industrie- und Handelskammern (IHK) benötigen. Hierfür werden sie eine Berufshaftpflichtversicherung nachweisen und einen Zuverlässigkeits- und Sachkundenachweis erbringen müssen.

Bei Verstößen drohen gewerberechtliche Bußgelder bis hin zur Untersagung der Fortführung des Geschäftsbetriebs. Auch Schadenersatzansprüche von Kunden sind denkbar. Wer beharrlich gegen die Gewerbeordnung verstößt, macht sich strafbar. Die Bestimmungen des § 34d GewO stellen zudem Marktverhaltensregeln im Sinne des Wettbewerbsrechts (UWG) dar. Bei Verstößen drohen grundsätzlich wettbewerbsrechtliche Inanspruchnahmen durch Wettbewerber, Verbände und die Industrie- und Handelskammern auf Unterlassung, Schadenersatz oder Gewinnabschöpfung.

Ob dasselbe auch gilt, wenn die Gruppenspitze nicht Verbrauchern, sondern Unternehmern die Gruppenmitgliedschaft vermittelt (B2B-Geschäft), ergibt sich aus dem Urteil des EuGH nicht eindeutig. Allerdings sprechen die vom Gericht herangezogenen Kriterien dafür. Maßgebliche Kriterien sind die Entgeltlichkeit der Vermittlung und der Verbraucherschutz. Vor diesem Hintergrund könnten möglicherweise Gruppenspitzen dann nicht als Vermittler gelten, wenn die Gruppenmitglieder überhaupt kein Entgelt für die Vermittlung der Gruppenmitgliedschaft zahlen und kein Verbraucherschutz geboten ist (beispielsweise bei Sportvereinen, bei denen ein Vereinsmitglied automatisch auch Gruppenmitglied in der Gruppen-Unfallversicherung wird).

Wird die Beratung damit zur Pflicht?

Eine ungeklärte Frage ist auch, ob Gruppenversicherungsnehmer gegenüber den Gruppenmitgliedern Beratungs- und Informationspflichten nach dem Versicherungsvertragsgesetz erfüllen müssen. Unterlassene oder fehlerhafte Beratung und Information könnte – soweit eine Pflicht hierzu besteht – Schadenersatzansprüche der Gruppenmitglieder gegen die Gruppenspitze auslösen. Zu Beratungs- und Informationspflichten nach dem VVG hat sich der EuGH in der jüngsten Entscheidung nicht geäußert.

Hier gibt es eine nationale Besonderheit. Der deutsche Gesetzgeber hat in § 7d VVG Beratungs- und Informationspflichten des Gruppenversicherungsnehmers gegenüber den Gruppenmitgliedern nur für die Gruppenrestschuldversicherung vorgesehen. Daraus wird man im Umkehrschluss folgern können, dass die Gruppenspitze in anderen Gruppenversicherungsprodukten keine Beratung und Information schuldet. Daran ändert auch das aktuelle EuGH-Urteil grundsätzlich nichts.

Gleichwohl deutet sich auch in dieser Frage ein Wandel an. Im Februar 2022 entschied der EuGH in einem polnischen Vorlageverfahren im Zusammenhang mit vorvertraglichen Informationspflichten, dass es einem Anbieter als „Versicherungsvermittler“ obliege, dieselben Informationen die das Unternehmen vom Versicherer zur Verfügung gestellt bekommen hat, dem beitretenden Verbraucher zu übermitteln – und zwar bevor er dem Gruppenversicherungsvertrag beitritt (Urteil vom 24. Februar 2022 – C-143/20 und C-213/20).

Der Entscheidung lag allerdings eine fondsgebundene Gruppenlebensversicherung zugrunde, in der die versicherten Gruppenmitglieder zur Prämienzahlung an den Versicherer – und nicht an die Gruppenspitze – verpflichtet waren. Noch ist unklar, ob dies auch bei „echten“ Gruppenversicherung gilt, in denen die Gruppenspitze die Prämie gegenüber dem Versicherer trägt.

Folgen für Versicherer

Doch auch für Versicherungsunternehmen ist die EuGH-Entscheidung relevant. Denn sie dürfen aufsichtsrechtlich nur mit Vermittlern zusammenarbeiten, die eine Erlaubnis haben – was in der Regel für die Gruppenspitzen nicht gelten wird.

Für die Versicherungsvermittler, die „schon immer solche waren“ dürfte dies bedeuten, dass sie und ihre Kunden, die Gruppenversicherungsverträge unterhalten, damit rechnen müssen, dass die Versicherer die Konzepte ebenfalls auf den Prüfstand stellen und sich zukünftig gegebenenfalls auch von Verträgen lösen.