BGH-Rechtsstreit über Thermofenster

Droht den Rechtsschutzversicherern eine neue Dieselgate-Schadenwelle?

In Karlsruhe läuft derzeit ein wegweisendes Verfahren im Abgasskandal, das viele neue Rechtsschutz-Schadenfälle zur Folge haben könnte. Wohin der BGH tendiert und was die Rechtsschutzversicherer erwarten.

Author_image
14:05 Uhr | 09. Mai | 2023
Droht den Rechtsschutzversicherern eine neue Dieselgate-Schadenwelle?

Der Abgasskandal lässt die Rechtsschutzversicherung nicht los: Wegen zu kleiner Thermofenster könnten nun mehrere Millionen Autos ein Recht auf Schadenersatz erhalten.

| Quelle: gabort71

Der weltweite Diesel-Abgasskandal hat sich längst zum größten Schaden in der Geschichte der deutschen Rechtsschutzversicherung entwickelt. Wie der GDV vergangenen Sommer mitteilte, bearbeiten die Rechtsschutzversicherer im Schnitt über vier Millionen Fälle im Jahr und leisten rund drei Milliarden Euro jährlich zur Finanzierung der Diesel-Klagen.

Diese Zahlen könnten sich bald noch deutlich erhöhen. Denn aktuell verhandelt der Bundesgerichtshof (BGH) in einem Verfahren (Az: VIa ZR 335/21), das bei verbraucherfreundlichem Ausgang die Tür öffnen könnte für extrem viele neue Rechtsschutz-Schadenfälle. Dabei geht es schätzungsweise um mehrere Millionen Fahrzeuge, in denen die sogenannte Thermofenster-Technik eingebaut ist. Diese ermöglicht es dem Fahrzeug innerhalb eines bestimmten Außentemperaturbereichs die Abgasproduktion zu drosseln und so den Schadstoffausstoß eines Autos zu reduzieren.

Zu kleine Fenster

Der Vorwurf: Die Autobauer haben die Thermofenster offenbar zu klein ausgewählt, Berichten zufolge häufig erst bei Temperaturen ab zehn Grad Celsius, um die Motoren möglichst zu schonen. Damit ist aber die Technik in Deutschland und vielen anderen Ländern über mehrere Monate des Jahres gar nicht in Betrieb. Bei der Kennzeichnung der Abgaswerte der Autos wurde der durch das Thermofenster dauerhaft gesenkte Schadstoffausstoß aber mit eingerechnet – und ein umweltfreundlicheres Auto verkauft sich besser.

Bislang hatten nur Dieselfahrer gute Aussichten auf Schadenersatz, bei deren Fahrzeugen die Abgaswerte vorsätzlich manipuliert wurden. Die Thermofenster fielen in den Bereich der Fahrlässigkeit. Durch die geringeren Erfolgsaussichten ihrer Klagen wurde Betroffenen von den Rechtsschutzversicherern häufig die Deckung verweigert, wie in diesem Fall der Arag.

Am 21.03.2023 hat sich dann aber der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit einem wegweisenden Urteil zum Thema Thermofenster (Az: C-100/21) auf die Seite der Verbraucher gestellt. Um dieses Urteil mit einzubinden, hatte der BGH seinen jüngsten Verhandlungstermin sogar noch einmal verschoben. Zudem wurden zahlreiche Verfahren an niedrigeren Instanzen pausiert, um die Reaktion der obersten deutschen Richter auf die EuGH-Entscheidung abzuwarten.

BGH tendiert zu Verbrauchern

Zu einem Urteil kam es am Montag in Karlsruhe noch nicht. Jedoch hat der BGH, wenig überraschend, höhere Erfolgschancen für Thermofenster-Kläger in Aussicht gestellt. Das berichten prozessbegleitende Medien, unter anderem die dpa. Ihnen zufolge tendieren die zuständigen Richter unter dem Vorsitz von Eva Menges zu einem „kleinen Schadenersatz“. Das würde bedeuten, die Dieselfahrer könnten ihre Autos behalten, würden aber den Minderwert im Vergleich zu einem einwandfreien Fahrzeug erstattet bekommen. Beim „großen Schadenersatz“ wäre die Rückabwicklung des Kaufvertrags abzüglich des Nutzungsvorteils möglich.

Da die Thermofenster-Thematik sehr weitreichend ist, hat der BGH für sein Verfahren drei Musterfälle zugelassen. Für alle drei soll das Urteil nun am 26. Juni gefällt werden. Entsprechend zurückhaltend reagierten die Rechtsschutzversicherer auf procontra-Nachfrage. Einige trauen sich eine Einschätzung erst zu, wenn Ende Juni das Urteil vorliegt, darunter die Marktführer Arag und Allianz. Das mag auch an der Konstellation mit den drei Musterfällen liegen, wovon bei einem bereits vor dem Autokauf ein Software-Update zur Fehlerbehebung geplant war, von dem der Käufer laut BGH-Einschätzung hätte wissen können.

Rechtsschutzversicherer halten sich noch sehr bedeckt

Die Örag wird in puncto neue Klagewelle etwas deutlicher: „Ja, wir gehen davon aus, dass es – je nach Entscheidung – zu neuen Klagen kommen kann“, teilte eine Unternehmenssprecherin auf Nachfrage mit. Eine Schätzung, wie stark das Schadenvolumen oder die Anzahl der Klagen dann steigen könnten, wollte sie aber nicht abgeben. Etwas anders formuliert man es bei Roland Rechtsschutz. Man sehe es sehr positiv, wenn sich die Erfolgsaussichten der eigenen Kunden erhöhten, hieß es aus Köln, und: „Wir haben unsere Kund:innen bei der Diesel-Thematik schon von Beginn an sehr weitgehend unterstützt. Daher wird sich für uns – aus derzeitiger Sicht – durch das Urteil vermutlich nicht viel ändern.“

Was da genau auf die Rechtsschutzversicherer zukommt, wird sich also erst konkreter benennen lassen, wenn das BGH-Urteil vorliegt. Um die Finanzierung vieler gleichlautender Klagen zu vermeiden, wäre eine oder mehrere Musterfeststellungsklagen zu Thermofenster-Fällen ein probates Mittel. Diese können Institutionen wie der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) anstoßen. Die Verbraucherschützer wiesen am Dienstag darauf hin, dass nur einen Tag vor der geplanten Urteilsverkündung ein neues EU-Recht in Bezug auf Sammelklagen auch hierzulande angewendet werden muss. Speziell bei Massenschäden wie dem Dieselskandal sollen Betroffene dadurch in Zukunft einfacheren Zugang zu Sammelklagen und folglich Entschädigung erhalten. Vielleicht Glück im Unglück für die Rechtsschutzversicherer.