Berufsunfähigkeit: Wann die Verweisung unzulässig ist

Im Rahmen des Nachprüfungsverfahrens wollte ein Berufsunfähigkeitsversicherer auf neu erworbene Fähigkeiten verweisen. Das Landgericht Nürnberg-Fürth musste entscheiden (Az.: 2 O 3404/16). Wie die Entscheidung ausfiel, erläutert Rechtsanwalt Björn Thorben M. Jöhnke im Gastbeitrag für procontra.

06:01 Uhr | 23. Januar | 2019
Verweisung Berufsunfähigkeit Urteil Nachprüfung

Wann ist die Verweisung auf neu erworbene Fähigkeiten zulässig und wann nicht? Das LG Nürnberg-Fürth entschied einen solchen Fall. Bild: Jöhnke & Reichow

Das Landgericht (LG) Nürnberg-Fürth hat mit Urteil vom 14.12.2017 (Az.: 2 O 3404/16) zur Thematik der Verweisung auf neu erworbene Fähigkeiten im Bereich der Berufsunfähigkeitsversicherung entschieden. Sachverhalt vor dem LG Nürnberg-Fürth

Der Versicherte hat eine Berufsausbildung als Koch abgeschlossen. Er unterhielt eine Rentenversicherung mit Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung. Mitte 2010 verlor er bei einem Fahrradunfall seinen Geschmacks- und Geruchssinn. Die Berufsunfähigkeitsversicherung erkannte ihre Leistungsverpflichtung an und zahlte fortan die monatliche BU-Rente.

Der Versicherungsnehmer hatte vor dem Unfall mit jeweils kürzeren Phasen der Arbeitslosigkeit als Koch bei verschiedenen Gaststätten und Hotels gearbeitet. Nach dem Unfall schloss er eine Umschulung als Veranstaltungskaufmann ab und arbeitete fortan als Betriebsleiter in einer Seniorenresidenz.

Der Berufsunfähigkeitsversicherer stellte seine Leistung ein und verwies den Versicherten auf diese Tätigkeit. In den besonderen Bedingungen zum Versicherungsvertrag war geregelt, dass, wenn die versicherte Person außerstande ist ihren Beruf auszuüben und übt sie auch keine andere Tätigkeit aus, die ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht, so gilt dieser Zustand von Beginn an als vollständige Berufsunfähigkeit. Der Versicherte verstand die AVB dahingehend, dass er nicht auf die nach dem Unfall neu erworbene Fähigkeiten verwiesen werden dar

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Aspekt „Ausbildungsberuf“ steht der Verweisung nicht entgegen

Der Versicherte verneint die soziale Vergleichbarkeit der Berufe Betriebsleiter und Koch. Die nunmehr ausgeübte Tätigkeit als Betriebsleiter sei schließlich kein Ausbildungsberuf, wie der von ihm in gesunden Tagen ausgeübte Beruf. Zu berücksichtigen sei, dass ein Lehrberuf ein höheres Ansehen habe. Im Übrigen könne die jetzige Tätigkeit als Betriebsleiter jeder nach einer „vergleichsweisen kurzen Einarbeitungszeit“ ausüben.

Laut LG Nürnberg-Fürth bedeutet die Verweisung auf eine Tätigkeit in einem Beruf, der keine Lehre voraussetzt, hingegen nicht von vornherein ein Abstieg in der sozialen Wertschätzung des Versicherungsnehmers. In diesem Zusammenhang sei zudem zu berücksichtigen, dass der Versicherte seine jetzige Stelle als Betriebsleiter in einer Seniorenresidenz wohl kaum ohne seine staatlich anerkannte Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann oder zumindest ohne die dabei erworbenen kaufmännischen und organisatorischen (Zusatz-) Kenntnisse und Fähigkeiten ausüben könnte. Im Rahmen einer etwaigen Einarbeitung müssten diese Fähigkeiten erst unter Zeitaufwand erworben werden.

Verweisung scheitert nicht an fehlenden Aufstiegsmöglichkeiten

Der Versicherte verneint eine soziale Vergleichbarkeit zudem, da ihm in seinem bisherigen Beruf offenstehende Aufstiegsmöglichkeiten zum Küchenchef genommen worden seien. Hieran scheitert die Verweisung laut LG Nürnberg-Fürth jedoch nicht.

Hinreichend gesicherte Aufstiegschancen sind zwar grundsätzlich zu berücksichtigen. Anders jedoch, wenn solche beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten, Verdienstmöglichkeiten etc. lediglich vage, ohne eine konkrete Aussage zu ihrer Realisierung binnen eines zumutbaren Zeitraums sind. Die bloße Chance oder die bloße Hoffnung sind nicht geschützt. Die Aussichten müssen konkret sein und es darf nicht offen sein, ob sie sich hätten verwirklichen können.

Vorliegend hatte der Versicherte nur die allgemeine Möglichkeit zu einem Aufstieg zum Chefkoch angegeben. Angesichts des bis zum Eintritt des Versicherungsfalls recht wechselhaften beruflichen Werdegangs des Versicherten ist auch nicht zu erkennen, dass gerade er konkrete Aussichten auf einen Aufstieg zum Chefkoch gehabt haben soll, so das Landgericht Nürnberg-Fürth.

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LG Nürnberg-Fürth: unzulässige Verweisung auf neu erworbene Fähigkeiten

Das Landgericht entschied dennoch, dass die Leistungseinstellung unwirksam ist. Die Verweisung auf nach Eintritt des Versicherungsfalls erworbenen Kenntnisse/Fähigkeiten erkennt das Gericht nicht an. Den Versicherungsbedingungen sei eine Obliegenheit zum Erwerb neuer beruflicher Fähigkeiten durch Umschulung o.Ä. nicht zu entnehmen. Daher sind solche auch nicht zu berücksichtigen. Neu erworbene Fähigkeiten aufgrund einer überobligatorischen Umschulung dürfen nicht zum Nachteil des Versicherten berücksichtigt werden.

Gemäß AVB ist eine Verweisungstätigkeit eine, die seiner „bisherigen Lebensstellung entspricht“. Dazu zählen keine Tätigkeiten, die geringere Fähigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen erfordert als der bisher ausgeübte Beruf bzw. geringer vergütet oder sozial weniger wertgeschätzt werden. Ein Versicherungsnehmer kann zudem annehmen, dass er nicht auf Tätigkeiten verwiesen werden kann, die er aufgrund fehlender Ausbildung und Fähigkeiten an sich gar nicht sachgerecht ausüben kann. Zum Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls war der Versicherungsnehmer zum Koch ausgebildet. Ihm wäre mit dem damaligen Kenntnis- und Ausbildungsstand die Tätigkeit als Betriebsleiter nicht möglich gewesen.

Fazit und Hinweis für die Praxis

Das Gericht entschied also, dass der BU-Versicherer nach der Leistungsanerkennung seine Leistungen im Nachprüfungsverfahren nicht mit Verweis auf einen nach Umschulung ausgeübten Beruf einstellen kann. Dies vor allem nicht, wenn in den vereinbarten AVB neu erworbene berufliche Fähigkeiten für eine Verweisung nicht erwähnt werden und sich die Verweisungsklausel auf die Berücksichtigung der „bisherigen Lebensstellung“ beschränkt. Fähigkeiten, die nach dem Versicherungsfall erworben werden, sind dann nicht zu berücksichtigen.

Für die Praxis ist festzustellen, dass es sinnvoll ist, jede Leistungseinstellung eines Berufsunfähigkeitsversicherers juristisch überprüfen zu lassen. Wie man an dieser Entscheidung sieht, ist nicht jede Leistungseinstellung des Versicherers rechtlich haltbar. Gerade wenn der Versichert wieder neue Tätigkeiten aufnimmt und tatsächlich ausübte, könnte der Versicherer im Zweifel eine konkrete Verweisung aussprechen, welche wiederum im Einzelfall genauestens juristisch überprüft werden sollte, damit keine Ansprüche des Versicherten vereitelt werden.

Der Autor

Björn Thorben M. Jöhnke ist Rechtsanwalt und Partner der Hamburger Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte mit Schwerpunkt Vermittlerrecht und Versicherungsrecht. Die Kanzlei wird zu dem Bereich „Berufsunfähigkeit“ auf dem Jöhnke & Reichow Vermittler-Kongress am 21.02.2019 in Hamburg referieren. Informationen zur Agenda finden Sie unter www.vermittler-kongress.de. Weitere Informationen zum Thema Berufsunfähigkeit.

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