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Löst eine Versicherungspflicht das Pflegeproblem?

Die Eigenanteile in der gesetzlichen Pflegeversicherung steigen unaufhörlich. Ein Expertenrat schlug nun die Einführung einer Pflichtversicherung vor. Ob das eine Lösung sein kann – darüber diskutieren Wirtschaftswisssenschaftler Jürgen Wasem und AfW-Vorstand Norman Wirth.

12:05 Uhr | 15. Mai | 2023
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Lässt sich dem Finanzierungsproblem in der Pflege mit einer Versicherungspflicht begegnen? Darüber gehen die Meinungen auseinander.

| Quelle: procontra

Pflegebedürftige müssen immer mehr Geld aus eigener Tasche zahlen, im Schnitt liegen die Eigenanteile aktuell bei 1.200 Euro – ohne Unterbringung und Investitionskosten. Um die Pflege auch in Zukunft noch finanzieren zu können, unterbreitete vor Kurzem ein vom PKV-Verband initiierter Expertenrat den Vorschlag einer Pflegepflichtversicherung. Diese soll 90 Prozent der stationären Pflegekosten abdecken, es bleibt also lediglich ein Selbstbehalt von zehn Prozent. Es besteht Kontrahierungszwang, eine Gesundheitsprüfung bei Abschluss der Versicherung entfällt. Vertrieben werden sollen die Pflege+-Versicherungen nicht nur durch die privaten Krankenversicherer, sondern auch durch Krankenkassen. Abschlussprovisionen soll es nicht geben. Ist die Versicherungspflicht eine Lösung für das defizitäre Pflegesystem?

Jürgen Wasem (Professor für Medizinmanagement und Vorsitzender des Expertenrates): Pro

Jürgen Wasem

Professor Jürgen Wasem ist Vorsitzender des vom PKV-Verband initiierten Expertenrates Pflegefinanzen und stellte in dieser Funktion das Konzept einer Pflegepflichtversicherung vor.

| Quelle: Privat

Die Kosten, die pflegebedürftige Menschen selbst tragen müssen, sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Insbesondere die Pflege in Heimen hat sich spürbar verteuert. Die Gründe sind vielfältig.

Als die gesetzliche Pflegeversicherung eingeführt wurde, ist der Gesetzgeber von einer Verteilung der Lasten ausgegangen: So soll die Versicherung im häuslichen Umfeld die Pflege unterstützen und im Heim ausschließlich die reinen Pflegekosten übernehmen. Die Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen sollten dagegen die Bundesländer tragen, Kosten für Unterkunft und Verpflegung hingegen die Pflegebedürftigen selbst. Allerdings sind die Leistungen der Pflegeversicherung in der Vergangenheit hinter der tatsächlichen Kostenentwicklung zurückgeblieben. Damit sind die Eigenanteile für pflegebedürftige Menschen heute deutlich höher als ursprünglich vorgesehen. Das belastet die Familien der Pflegebedürftigen, gleichzeitig steigen auch die staatlichen Ausgaben für die Unterstützung derjenigen, die diese Kosten nicht tragen können. Was also tun? Man könnte auf mehr Eigenverantwortung der Menschen setzen.

Nicht alle werden mit freiwilliger Vorsorge erreicht

Allerdings spricht die Erfahrung der letzten Jahre und Jahrzehnte dagegen. Bürgerinnen und Bürger sorgen nicht oder nicht in einem ausreichenden Maß vor, obwohl sie es eigentlich könnten. Beispiele hierfür gibt es nicht nur in Deutschland und nicht nur für die Pflegeversicherung.

Gleichzeitig können bei einer freiwilligen Vorsorge nicht zielgenau diejenigen erreicht und entlastet werden, die dies besonders brauchen. Will man daher eine breite Absicherung für den Fall der Pflegebedürftigkeit erreichen und gleichzeitig gezielt Menschen mit geringeren Einkommen oder in bestimmten Lebenssituationen unterstützen, so spricht einiges für eine Versicherungspflicht. Dann bliebe noch die Entscheidung zu treffen, in welcher Form diese Versicherungspflicht zu erfüllen ist. Möglich wäre es, die Leistungen im Pflichtversicherungssystem der gesetzlichen Pflegeversicherung auszuweiten und entsprechend die Beiträge für alle zu erhöhen.

Allerdings sind bereits heute die Folgen der Bevölkerungsalterung in unseren Sozialversicherungssystemen sichtbar, eine Entspannung ist in den nächsten Jahrzehnten nicht in Sicht, im Gegenteil. Deshalb ist es notwendig, neue Wege zu gehen und alternative Möglichkeiten zu denken, wie Pflegevorsorge verpflichtend, aber sozialpolitisch tragbar ausgestaltet werden kann. Eine zusätzliche, kapitalgedeckte Pflegeversicherung, die sozialpolitisch flankiert und an vielen Stellen reguliert ist, kann das Finanzierungsproblem in der Pflege lösen, ohne die heute bereits erkennbaren Probleme des Pflichtversicherungssystems in der Zukunft fortzuführen.

Norman Wirth (geschäftsführender Vorstand beim Vermittlerverband AfW): Contra

Norman Wirth

Norman Wirth ist geschäftsführender Vorstand des Vermittlerverbandes AfW.

| Quelle: AfW

Was da von dem Expertenrat skizziert wird, ist im Prinzip eine Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung. Dazu bedarf es der privaten Versicherer nicht. Kontrahierungszwang, keine Gesundheitsprüfung, Risikoausgleich zwischen den Versicherungsunternehmen, keine Beratung und all die anderen vorgeschlagenen Details – das hat mit Freiheit und Wettbewerb nichts mehr zu tun. Das kann auch eine zentrale Staatsbehörde erledigen.

Aber es gibt noch mehr Argumente. Nur einige davon: Ohne Gesundheitsprüfung und selektive Vertragsgestaltung würden Menschen mit höherem Risiko für Pflegebedürftigkeit denselben Beitrag zahlen wie Menschen mit geringerem Risiko. Das haben wir noch nicht einmal in der Kfz-Haftpflichtversicherung. Dies würde zu einer ungleichen Risikoverteilung führen und die Beiträge für viele Versicherte unnötig erhöhen.

Moloch an staatlicher Aufsicht

Da es sich um eine Pflichtversicherung mit Kontrahierungszwang handeln soll, wäre man auf einen Vertrieb nicht angewiesen. Die Kosten sollen ja auch maximal gering bleiben, jedoch soll ein – sicherlich ruinöser – Wettbewerb mit den gesetzlichen Kassen geführt werden. Aber ohne eine angemessene, qualifizierte Beratung würden viele Menschen nicht verstehen, welche Leistungen und Bedingungen in der Versicherung enthalten sind. Dadurch könnten sie im Pflegefall falsche Entscheidungen treffen und finanziell benachteiligt sein.

Ein Moloch an staatlicher Aufsicht entstünde. Vertrieben werden sollen die Pflege-Versicherungen nach Vorstellung des Expertenrates nicht nur durch die privaten Krankenversicherer, sondern auch durch Krankenkassen. Diese sollen den Wettbewerb um möglichst niedrige Verwaltungskosten weiter anheizen. Ohne gute staatliche Kontrolle der privaten Pflegeversicherung im Wettbewerb mit den aus Steuergeldern gesponsorten gesetzlichen Kassen könnten Versicherungen ihre Versprechungen vielleicht nicht einhalten und die Versicherten im Pflegefall benachteiligen. Eine staatliche Regulierung und Kontrolle wäre jedoch aufwändig und würde erhebliche Steuergeldausgaben verursachen.

Der Bundesverband Finanzdienstleistung AfW setzte 2013 beim Bundesgerichtshof im Rahmen eines Wettbewerbsprozesses durch, dass die AOK Nordost es zukünftig zu unterlassen hat, ohne die notwendige Erlaubnis nach § 34d Gewerbeordnung private Krankenzusatzversicherungen anzubieten, zu ermöglichen und/oder mit einem derartigen Angebot zu werben. Ein Paukenschlag, der auch bei privaten Versicherern nicht nur zu Jubel geführt hat. Ja. Aber warum wurde der Prozess geführt und hat der BGH so entschieden? Weil der Gesetzgeber explizit eine Beratung der Versicherungsnehmerinnen und -nehmer im Bereich der privaten Versicherungsvermittlung verlangt. Zu Recht! Und entweder geht es hier um eine staatlich organisierte und durchgeführte Versicherung oder wir sind im Bereich der privaten Versicherung – dann aber mit Beratung vor der Vermittlung durch diejenigen, die es können.

Löst eine Versicherungspflicht das Pflegeproblem?