Marktstandards in der Berufsunfähigkeit

„BU ist in vielen Häusern in den Winterschlaf gegangen“

Ein Analysehaus hat über 400 BU-Tarife am Markt überprüft, um herauszufinden welche Anbieter und Tarife den Marktstandard erfüllen. Ein Fazit der Experten: Die Anstrengungen der Versicherer erschöpfen sich auf Prämiensenkungen und das „Erfinden“ neuer Berufsbilder.

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12:08 Uhr | 01. August | 2023
Igel im Winterschlaf

Ein Experte bemängelte, dass bei vielen Versicherern die Berufsunfähigkeit in den Winterschlaf gegangen zu sein scheint. Demnach würden sich die Anbieter nur auf Prämiensenkungen und das „Erfinden“ neuer Berufsbilder beschränken.

| Quelle: lorenzo104

Das Angebot von Berufsunfähigkeitsversicherungen (BU) ist groß. Umso relevanter ist die Frage, welche und wie viele den sogenannten Marktstandard erfüllen oder übertreffen. Das wollte das Infinma Institut für Finanz-Markt-Analyse wissen und hat insgesamt 72 Versicherer unter die Lupe genommen. 42 Anbieter und 244 Tarife von insgesamt 439 Tarifen wurden ausgezeichnet. Basis der Untersuchung sind alle aktuell auf dem deutschen Markt verfügbaren verkaufsoffenen BU-Tarife.

Seit 2011 veröffentlicht das Analysehaus die Marktstandards in der BU. Dazu werden 18 Kriterien herangezogen, die sich ausschließlich auf die Bedingungswerke beziehen. Ein Marktstandard speist sich aus der jeweiligen Regelung, die in den untersuchten Bedingungswerken am häufigsten verwendet wird, also üblich ist. Technische Gestaltungsmöglichkeiten wie zum Beispiel die Höhe einer beitragsfrei versicherbaren Rente spielen keine Rolle.

„Ausdrücklich nicht Gegenstand (…) ist die Entwicklung eigener Mindestanforderungen oder evtl. aus Kunden- oder Beratersicht wünschenswerter Produkteigenschaften“, heißt es von dem Unternehmen. Infinma betont, dass es sich bei der Untersuchung explizit um kein Rating mit Punktevergabe handelt. Demnach lassen sich die einzelnen Bedingungsbestandteile nicht gegeneinander „aufrechnen“. Aus diesem Grund werden die einzelnen Kriterien also lediglich daraufhin überprüft, ob die Regelungen besser oder schlechter sind als der Marktstandard.

Zu den 18 Qualitätsmerkmalen (Standards) gehören: Prognose, rückwirkende Leistung, abstrakte Verweisung, Verzicht auf Umorganisation bei Akademikern und Kleinbetrieben, Kostenbegrenzung bei Umorganisation, Berufswechselprüfung, Leistungsbeginn, Meldefristen, Erhöhungsoption ohne Anlass, Beitragsstundung, befristete Anerkenntnisse, Meldepflicht Minderung BU, Meldepflicht Aufnahme Tätigkeit, Nachprüfung, Leistung bei Arbeitsunfähigkeit, Ausscheiden aus dem Beruf und Option auf selbstständige Anschluss-Pflegerente. Die Bewertung dieser Aspekte führt dann im positiven Fall zu einem kostenlosen Zertifikat.

Ernüchterndes Fazit

Das kritische Fazit des Analysehauses: „Schon bei der letzten Untersuchung der BU-Marktstandards hatten wir vom Konkurrenzdruck durch die Grundfähigkeitsversicherung gesprochen. Inzwischen scheint die BU in vielen Häusern in den Winterschlaf gegangen zu sein; aktuell erschöpfen sich die Anstrengungen der Versicherer vermeintlich auf immer neue Prämiensenkungen und das ,Erfinden' neuer Berufsbilder“, bemängelt Jörg Schulz, Infinma-Geschäftsführer.

Luft nach oben hinsichtlich der Bedingungen gebe es beispielsweise noch hinsichtlich der Anzeigepflicht bei der Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit. „In mehr als der Hälfte aller Tarife ist auch immer noch ein befristetes Anerkenntnis vorgesehen. Das ist aus Kundensicht nicht zwingend vorteilhaft; vor allem dann nicht, wenn der Kunde im Anschluss an die Befristung einen komplett neuen Leistungsantrag stellen muss“, ergänzt Geschäftsführer-Kollege Marc Glissmann.

Dennoch sei die Qualität der Bedingungen in der Breite relativ hoch. Die Unterschiede würden sich vor allem in den Detailregelungen der einzelnen Kriterien finden.

Abstrakte Verweisung

Manche Versicherer behalten sich in den BU-Tarif-Bedingungen eine abstrakte Verweisung vor. So halten sie sich die Möglichkeit offen, Leistungen mit dem Hinweis darauf zu verweigern, dass die versicherte Person einen anderen Beruf ausüben könnte, einen sogenannten Verweisungsberuf. Ob der Versicherungsnehmer allerdings tatsächlich eine Anstellung findet, ist für die Entscheidung des Versicherers unerheblich. Das Arbeitsmarktrisiko liegt damit vollständig beim Versicherten. Insgesamt 386 Tarife verzichten vollständig und uneingeschränkt auf die abstrakte Verweisung in der Erstprüfung. Damit hat sich diese Bedingung inzwischen als Marktstandard durchgesetzt. Immerhin 15 BU-Tarife beinhalten noch immer den Passus der abstrakten Verweisung.

Erhöhungsoption ohne Anlass

Manche Tarife gewähren die Erhöhung des Versicherungsschutzes ohne eine erneute Gesundheitsprüfung. Das Recht kann auf einen bestimmten Zeitraum wie zum Beispiel fünf Jahre nach Vertragsabschluss und/oder auf den Eintritt bestimmter Lebensereignisse wie Heirat, Geburt eines Kindes oder Aufnahme einer Finanzierung begrenzt sein. Bei einer Erhöhung ohne Anlass sind Versicherungskunden hingegen nicht an bestimmte Ereignisse gebunden, doch gelten hier eindeutige zeitliche Einschränkungen. Dennoch werten die Analysten die Erhöhung ohne Anlass positiv. Schließlich ermöglicht diese Regelung den Versicherten ihren Versicherungsschutz in einem bestimmten Rahmen nachzubessern. Als Marktstandard hat sich die Erhöhung ohne besonderen Anlass innerhalb der ersten drei bis fünf Jahre (bis 40 Jahre) etabliert, wie 202 Tarife zeigen. 89 Tarife wiederum bieten diese Option nicht. Immerhin 17 Bedingungswerke ermöglichen eine anlasslose Erhöhung alle fünf Jahre zu einem festgelegten Stichtag, weitere 16 Tarife offerieren eine solche innerhalb der ersten drei bis fünf Jahre in der Alterspanne zwischen 41 bis 50 Jahren.

Nachprüfung

Grundsätzlich können Versicherer nach einer bestimmten Zeit (nach-) prüfen, ob eine einmal eingetretene BU aus medizinischer Sicht wirklich weiter andauert. Ist das nicht der Fall, kann der Versicherer die Leistung einstellen. Wenngleich Leistungsvoraussetzungen vorliegen müssen, wird die Nachprüfung jedoch problematisch, wenn „überraschende“ Klauseln greifen. „Aus Sicht des Kunden ist bei der Nachprüfung eine Einstellung der Leistungen eigentlich nur dann akzeptabel, wenn er bereits wieder einen Beruf ausübt, der seiner Ausbildung, Erfahrung und Lebensstellung entspricht und den er aufgrund seiner gesundheitlichen Verhältnisse auch tatsächlich uneingeschränkt ausüben kann“, so die Analysten. Als Marktstandard hat sich die Nachprüfung mit der Möglichkeit einer konkreten Verweisung gegebenenfalls auch unter bestimmten Voraussetzungen durchgesetzt. Bei 405 Tarifen ist das der Fall. Nur 14 Tarife beinhalten eine Nachprüfung mit der Möglichkeit einer abstrakten Verweisung, gegebenenfalls auch unter bestimmten Voraussetzungen wie zum Beispiel der Umorganisation des Arbeitsplatzes.

Die vollständige Auflistung der Kriterien und Bewertungen findet sich hier. Die Liste der Anbieter hat das Analysehaus unter diesem Link bereitgestellt. Details zur Methodik der Untersuchung können hier nachgelesen werden.