Wirtschaftsweise uneins mit Bundeskanzler
Im Sommer wird hierzulande gerne mal über die Rente sinniert. Vor gut einem Jahr kam die Diskussion auf, ob man den Folgen der demographischen Entwicklung am besten mit der Einführung der 42-Stunden-Woche oder der Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung begegnen könnte. Schnell gesellte sich aus verschiedenen wirtschaftlichen Ecken noch die Forderung nach der „Rente mit 70“ dazu.
Die volle Altersrente erst später als mit 67 beziehen zu dürfen, dafür macht sich nun auch die Wirtschaftsweise Veronika Grimm stark. Die Professorin und Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Wirtschaftsweise) sagte am Wochenende den Zeitungen der Funke Mediengruppe: „Man sollte die Regelaltersgrenze für den Renteneintritt an die Lebenserwartung koppeln.“
Grimm vs. Scholz
Damit positioniert sich die Wirtschaftswissenschaftlerin entgegen der kürzlichen Aussagen von Bundeskanzler Olaf Scholz. Dieser hatte letzte Woche auf einem Bürgerdialog in Erfurt gesagt: „Ich bin der festen Überzeugung, dass wir es jetzt nicht mehr nötig haben, das Renteneintrittsalter immer weiter anzuheben.“ Die wachsende Bevölkerung und die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen würden hier in eine gute Richtung zeigen.
Grimm hingegen sieht trotz dieser Trends Probleme. Aus ihrer Sicht müsse man auch der zunehmenden Zahl der Frühverrentungen entgegenwirken. „Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen länger arbeiten wollen und auch können, dass also das tatsächliche Rentenalter steigt", sagte die Wirtschaftsweise. Eine höhere Erwerbsbeteiligung bei den Älteren würde auch den Fachkräftemangel hierzulande bekämpfen.
Werden die körperlich Tätigen vergessen?
Für Grimms Aussagen hagelte es bereits teils heftige Kritik. Beispielsweise schrieb Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte auf dem Kurznachrichtendienst X: „Gut bezahlte Wirtschaftsweise fordern ein höheres Renteneintrittsalter weil 'wir' immer länger leben - und verkennen dabei, dass die ohnehin schon große Kluft zwischen Arm und Reich bei der Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten weiter gewachsen ist.“
Darunter postete Bovenschulte eine Grafik des Max-Planck-Instituts, wonach vor allem die oberste Einkommensgruppe von der steigenden Lebenserwartung der letzten 20 Jahre profitiert. Deren männliche Vertreter haben, der Grafik zufolge, im Alter von 65 Jahren im Durchschnitt noch 21 Lebensjahre vor sich, während es bei der untersten Einkommensgruppe nur etwa 16 sind. Zudem steigt die Lebenserwartung bei den Besserverdienenden schneller an.
Grimm konkretisierte ihre Positionierung für ein höheres Renteneintrittsalter zwar mit der Bedingung, dass bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen Ausnahmen gelten sollten. „Nimmt die Lebenserwartung um ein Jahr zu, so würden zwei Drittel des zusätzlichen Jahres der Erwerbsarbeit zugeschlagen und ein Drittel dem Ruhestand“, schlug sie als Formel vor. Jedoch müsste dann eine komplizierte Grenze gezogen werden, ab welchem Gesundheitszustand es sich um eine solche Beeinträchtigung handelt und ab wann es hinnehmbarer Verschleiß ist. Denn bei Forderungen nach einem höheren Renteneintrittsalter kommt stets harsche Kritik aus dem Lager der körperlich anstrengenden Berufe. So sei es bereits jetzt für sehr viele Berufstätige aus diesen Branchen undenkbar, bis zum Alter von 67 Jahren noch auf der Baustelle oder am Fließband zu arbeiten.