Verspätete Schadenregulierung

Warum die Erreichbarkeit der Versicherer ein strukturelles Problem ist

Die mangelnde Erreichbarkeit und verspätete Schadenregulierung bei den Versicherern hat sich zu einem strukturellen Problem ausgewachsen. Lösungen müssen her - können aber nur langfristig greifen.

Author_image
14:05 Uhr | 02. Mai | 2024
Gelbes altes Telefon

Technische Weiterentwicklung soll den Weg aus der Erreichbarkeitskrise ebnen.

| Quelle: s-cphoto

Immer wieder haben sich Versicherungsmakler in den vergangenen Monaten über die Erreichbarkeit der Versicherer echauffiert. Auf Bewertungsportalen wie Trustpilot häuften sich entsprechend schlechte Bewertungen von Verbrauchern. Zunächst entzündete sich der Ärger oft am Kfz-Bereich und betraf die Huk-Coburg oder die Allianz oder andere große Versicherer wie HDI oder Axa. Doch inzwischen sind es nicht mehr nur einzelne kleine Feuer, die schnell gelöscht werden können. Sondern die Beschwerden über den Service - also die Erreichbarkeit, die Bearbeitung und die Auszahlungen im Schadenfall - haben Flächenbrandcharakter entwickelt.

Vema-Vorstand Johannes Neder ist sich inzwischen sicher, dass die Verzögerung in der Schadenregulierung nicht mehr nur einzelne Sparten oder einzelne Versicherer betrifft, sondern sich zu einem strukturellen Problem ausgeweitet hat, das sich so schnell nicht beheben lassen wird. Das bestätigt auch Maklerpool Blau Direkt: Die Erreichbarkeit sowie die schnelle und erfolgreiche Bearbeitung von Anliegen zwischen Versicherer, Vermittler und Endkunde stellten definitiv eine große Herausforderung dar.

Personalsorgen und Schadenquoten werden größer

Die Itzehoer ging bei der Bilanzpressekonferenz im April sogar in die Offensive und holte das Thema Erreichbarkeit selbst auf die Bühne. Dabei führt der Versicherer zwei Gründe für die Schwierigkeiten an: Zum einen suche die Itzehoer derzeit 15 Mitarbeiter im Service. Zum anderen habe sich der Schadentrend nach der Corona-Pandemie wieder verschärft. In den Jahren 2020 und 2021 mussten aufgrund der eingeschränkten Mobilität durch die Corona-Pandemie weniger Schäden reguliert werden - jetzt schießen die Schäden wieder in die Höhe.

Doch es betrifft nicht nur die Kfz-Versicherer: In der privaten Krankenversicherung klagten Kunden, dass ihre Arztrechnungen wochenlang nicht bearbeitet würden. „Die Rechnungserstattung in der privaten Krankenversicherung beträgt nun ca. 8 Wochen. Telefonische Anfragen bringen nichts! Dieses Verhalten ist völlig unzumutbar“, schrieb erst im April einer von vielen Usern auf Trustpilot bezüglich der Signal Iduna. Bereits im Dezember hatte es bei den Hamburgern rumort und die Signal-Iduna-Vertreter hatten Alarm geschlagen.

Anzeige

Von einem erhöhten Aufkommen berichten inzwischen nahezu alle privaten Krankenversicherer. Die Zahl der Krankheitsausfälle steuerte in Deutschland 2023 auf ein Rekordhoch zu. Im Schnitt waren es pro Beschäftigtem mehr als 20 Fehltage. Das spüren die PKV-Anbieter gleich doppelt: Beim Rechnungsaufkommen und bei den eigenen Mitarbeitern. „Es haben sich nach der Coronapandemie die Schadenfälle insbesondere in der Kranken- und in der Kompositversicherung zum Teil deutlich erhöht. Dazu kommt ein Arbeits- und Fachkräftemangel, der alle Branchen trifft, nicht nur die Versicherungswirtschaft. Auch die hohen Krankenstände Anfang dieses Jahres hatten Auswirkungen auf die Rückstandssituation. Und Rückstand produziert leider noch mehr Rückstand – Kundinnen und Kunden fragen nach, selbstverständlich zu Recht, binden damit jedoch weitere Kapazitäten“, beschreibt ein Signal-Iduna-Sprecher die Gemengelage.

Mitarbeiter am Limit

„Das Problem betrifft keine spezielle Sparte“, ist sich Neder sicher. Neben dem Einfluss des demografischen Wandels gäbe es einen Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften in den relevanten Bereichen. „Eine unserer Vermutung ist, dass in der Vergangenheit Personalkapazitäten dem Arbeitsmarkt bereitgestellt wurden, um nach erfolgreicher Digitalisierung nicht plötzlich überflüssiges Personal zu haben. Gleiches gilt für die Nachbesetzung frei werdender Stellen“, so Neder.

Für diese Argumentation sprechen auch Mails von Mitarbeitern der Huk-Coburg, die procontra vorliegen. Ein langjähriger Angestellter des Kfz-Marktführers schreibt: „Sie werden sehen, in den nächsten 2 bis 3 Jahren wird es noch viel schlimmer werden. Die Huk-Belegschaft ist total überaltert, sehr oft krank und kann die Arbeit überhaupt nicht mehr bewältigen. 15 Jahre wurde niemand eingestellt und so wird man halt Kostenführer. Das jetzt aufzuholen, ist unmöglich.“ Die kurzfristigen Lösungen seien vor allem Samstagarbeit und hohe Überstundenvergütungen gewesen. Doch das kann auf Dauer nicht gut gehen. In einem Statement gegenüber procontra heißt es von der Huk-Coburg: „Die gesamte Versicherungsbranche erlebt eine neue Schadenrealität, mit der sie, wie auch die Huk-Coburg, umgehen muss. Wir erreichen unsere selbstgesteckten Servicelevel wieder. Unsere in 2023 eingeführten Maßnahmen greifen. Dazu zählt Mehrarbeit, aber auch Personalanbau. Jetzt gilt für uns, langfristig zufriedenstellende Lösungen für Kundinnen und Kunden sowie Mitarbeitende zu finden.“

Im Visier der BaFin

Die Versicherer müssen sich bewegen, denn die Häufung der Beschwerden hat längst die Finanzaufsicht BaFin auf den Plan gerufen. „Verzögerte Schadenbearbeitung beziehungsweise die verzögerte Auszahlung von Versicherungsleistungen war im vergangenen Jahr der wichtigste Beschwerdegrund im Versicherungsbereich (über alle Sparten hinweg)“, so ein BaFin-Sprecher auf Nachfrage von procontra. „Allein daran sieht man, dass es sich bei den Problemen nicht um Einzelfälle handelt. Die Ursachen sind vielschichtig.“ Zu den Gründen für Verzögerungen in der Schadenbearbeitung zählen aus Sicht der Finanzaufsicht regelmäßig ein erhöhtes Schadenaufkommen, etwa durch größere Unwetterereignisse, aber auch Personalmangel und IT-Probleme.

Die BaFin behält das Thema sehr genau im Blick. Solange es nur kurzzeitig zu Verzögerungen kommt, etwa durch temporäre Bearbeitungsspitzen/-rückstände, sei dies nicht per se problematisch. Gibt es jedoch Anzeichen für Mängel in der Geschäftsorganisation, schreite die BaFin ein.

Prozesse verbessern - Dunkelverarbeitung erhöhen

Laut Vema-Vorstand Neder haben einige Versicherer bereits Maßnahmen ergriffen. Beispielsweise wurde für die Vema spezielle Bearbeitungsteams oder Schaden-/Eskalationsmanager eingesetzt, die abteilungsübergreifend die dringendsten Angelegenheiten/Anfragen lösen sollen. „Wir können in enger Abstimmung mit den Versicherern im Vorfeld bereits ganze Prozesse verbessern, um ein hohes Maß an Dunkelverarbeitung und Klarheit zu gewährleisten. Es wäre wünschenswert, dass, wenn eine Angebotsanfrage dunkel verarbeitet werden kann, dies auch im Schadenfall dunkelverarbeitet funktioniert.“

Bei der Signal Iduna setzt man langfristig auf die fortschreitende Digitalisierung und die generative künstliche Intelligenz, um Kapazitätsengpässe zu beseitigen und den Service für Kunden wieder deutlich zu verbessern. „Es gibt hier schon erste erfolgversprechende Ansätze beispielsweise mit Assistenzsystemen, die unseren Mitarbeitenden helfen, die Kundenanliegen deutlich schneller zu bearbeiten.“

Maklerpool Blau Direkt hält ebenfalls Technik für den passenden Schlüssel: „Als Technologieanbieter stellt Blau Direkt eine Plattform zur Verfügung, die es den drei Parteien Versicherer, Vermittler und Endkunde ermöglicht, so viele Prozesse und Abläufe wie möglich volldigital und automatisiert zu erledigen.“

Wie lange wird es dauern bis die Situation sich wieder normalisiert?

Obwohl diese Schwierigkeiten offenbar die gesamte Branche betreffen, legt ein Statement des GDV (Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft) gegenüber procontra nahe, dass der Verband erstmal nichts zur Lösung beiträgt, sondern jeder Versicherer für sich daran bastelt. Dem Branchenverband sei ein strukturelles Problem bei Schadenregulierung und Erreichbarkeit nämlich nicht bekannt. Vema-Vorstand Neder geht davon aus, dass es einige Zeit in Anspruch nehmen wird, bis der Bearbeitungsstau sich wieder auflöst. „Es ist schwierig abzuschätzen, wie lange es dauern wird, da es sich nicht nur um temporäre Engpässe handelt, sondern um ein strukturelles Problem, das mit der Grundauslastung der Abteilungen der Versicherer zusammenhängt.“