Mehr Gerechtigkeit in der BU durch Scoring?

2019 führte die Zurich als erster Versicherer ein sogenanntes Scoring-Modell in der BU zur Einstufung der beruflichen Tätigkeit ein. Andere Versicherer folgten, dennoch ist man sich über Vor- und Nachteile des Scorings bis heute nicht einig.

12:08 Uhr | 04. August | 2021

Die steigende Differenzierung der Berufsgruppen in der Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) ist eine bekannte und aus Versichertensicht zugleich unschöne Entwicklung am Markt. Die Aufspaltung in immer mehr Berufsgruppen hat dabei Akademiker und Kaufleute bevorteilt, während vor allem körperliche Tätige, beispielsweise im Handwerk und der Pflege das Nachsehen hatten. In der Folge ist der BU-Schutz in den Zielgruppen mit höheren Risiken kaum noch zu platzieren. So weit, so bekannt. 

Argumente für ein BU-Scoring 

Für eine fairere Bewertung nutzen einige Anbieter ein sogenanntes Scoring-Modell. Scoring wird nicht nur in der Versicherungswirtschaft benutzt, sondern auch bei der Kreditvergabe. Anhand gesammelter Erfahrungen wird mit diesem Modell eine zuverlässige Prognose für die Zukunft gestellt. Bei der BU soll die Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer Berufsunfähigkeit vor allem durch Fragen nach dem Arbeitsalltag und den tatsächlich ausgeübten Tätigkeiten geprüft werden. So kann der Versicherer eine realistischere Einschätzung des Risikos gewinnen als durch die formale Angabe des Berufes. 

Die Einführung des Scoringmodells im Jahr 2019 trug der Tatsache Rechnung, dass die Einstufung in eine bestimmte Berufsgruppe oftmals nicht mehr der Realität des heutigen Arbeitslebens gerecht wird. Jacques Wasserfall, damals Mitglied im Zurich-Vorstand, hatte die Neuausrichtung zu dem Zeitpunkt folgendermaßen begründet: „Digitalisierung und Automatisierung führen zu neuen Berufsbildern. Das traditionelle Karrieremodell hat ausgedient, selbstständige Tätigkeit und projektbezogene Auftragsarbeit nehmen zu. Das muss sich auch in der Berufsunfähigkeitsversicherung der Zukunft abbilden.“ 

Auch der Makler und Berufsunfähigkeitsexperte Phillip Wenzel sieht die traditionelle Einteilung in Berufsgruppen als überholt an: „Die Berufsgruppen-Kataloge sind jetzt schon bei 40.000 in der Spitze. Da sind dann eher veraltete Berufe, wie der Ameiseneiersammler oder auch der Tannenzapfensammler, drin, aber halt kein Head of Product“, stellt Wenzel gegenüber procontra die Situation sicher etwas überspitzt, aber absolut realistisch dar. 

Außerdem unterscheiden sich die wirklich ausgeübten Tätigkeiten oftmals erheblich zwischen den einzelnen Angehörigen einer Berufsgruppe. So verbringen manche Handwerksmeister in der heutigen Zeit oft einen wesentlichen Teil ihres Arbeitstages im Büro. Im Normalfall steigt der Anteil der Bürotätigkeit je mehr Arbeitnehmer sie beschäftigen. So können Handwerksmeister durch das Scoring nicht selten im Sinne einer günstigeren Einstufung profitieren. 

Risikogerechte Prämien

Generell profitieren die Beschäftigten, bei denen der Anteil körperlicher Tätigkeit geringer ist, als dies aus der reinen Berufsbezeichnung hervorgeht und die auch regelmäßig an Fortbildungen teilnehmen. Besonders handwerklich-technische Berufe mit einer höheren Qualifizierung können somit durch ein Scoring risikogerechter eingestuft werden. 

Bei der Zurich finden die Berufsgruppen zusätzlich zum Scoring weiter Anwendung. Bernd O. Engelien, Leiter Unternehmenskommunikation der Zurich im Gespräch mit procontra: „Der Berufsbegriff bleibt unverändert die Basis für eine risikogerechte Prämie und wird durch die Scoringinformationen ergänzt. Das neue Scoring ermöglicht jedoch eine kundenindividuellere Bewertung der Tätigkeit und dadurch in vielen Fällen eine bessere Einstufung der risikoadäquaten Prämien.“ Für die „kundenindividuellere Bewertung“ nennt Engelien ein Beispiel: Ein gelernter Industriemechaniker hat möglicherweise während seiner beruflichen Laufbahn mehrere Weiterbildungsmaßnahmen absolviert und Personalverantwortung erhalten. Durch die hinzugekommenen administrativen Tätigkeiten im Büro verringert sich der tägliche Anteil an körperlicher Arbeit. Dies wirke sich durch die differenzierte Erfassung im Scoringmodell günstig auf den Versicherungsbeitrag des Kunden aus.  

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Im Scoring hat der Anteil der Bürotätigkeit und bei Selbstständigen die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer besondere Relevanz. Ebenso sind die Reisetätigkeit und Weiterbildungen Kriterien bei Einstufungen. 

Mit der Bedeutung der Tätigkeitsbeschreibung als Teil der Scoring-Modelle eröffnen sich aber auch gewisse Möglichkeiten für Antragsteller und Vermittler, eine bessere Einstufung bewusst herbeizuführen. Problematisch wird dies dann, wenn falsche Angaben gemacht werden, zum Beispiel wenn der Anteil der Bürotätigkeit – bewusst oder unbewusst – höher angegeben wird, als dies in Wirklichkeit der Fall ist. Dies kann im Leistungsfall zum Problem werden, denn wenn die Berufsunfähigkeit auf körperliche Arbeit zurückzuführen ist, wird der Versicherer natürlich prüfen, wie hoch deren Anteil beim Versicherungsnehmer tatsächlich war. 

Die Gefahr nicht korrekter Angaben sieht auch Alina vom Bruck, Leiterin Leben Innovation und Prokuristin bei der Gothaer: „Bei den Scoring-Modellen besteht die Schwierigkeit, dass deutlich mehr Fragen zur Tätigkeit notwendig sind als eine einfache Frage nach dem Beruf. Die Beantwortung dieser Fragen ist für Kunden und Vermittler aufwendiger. Zudem besteht bei den Fragen ein gewisser Interpretationsspielraum und damit die Gefahr der Falschbeantwortung, was möglicherweise zu einem Streitpunkt im Leistungsfall werden kann.“ 

Oft üben die Kunden Druck auf Vermittler aus, indem sie häufig mehrere Angebote einholen und sich dabei stark am Preis orientieren. Letztendlich laufen geschönte Angaben zur Einstufung des Antragstellers aber immer auf eine Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht hinaus. Das kann auch dem Vermittler auf die Füße fallen, wenn ihm eine Falschberatung nachgewiesen wird. 

Gerechtere Einstufung? 

Die Versicherungsunternehmen, die mit Scoring-Modellen arbeiten, argumentieren gerne, dass diese eine exaktere und gerechtere Einstufung ermöglichen. Jawed Barna, Vorstand Vertrieb und Strategische Partnerschaften der Zurich Gruppe Deutschland, unterstreicht dabei besonders den Punkt der Personalverantwortung:  „Mit wenigen Angaben, wie beispielsweise der Angabe zur Personalverantwortung, erfahren wir, wie der Beruf tatsächlich ausgestaltet ist. Ein Geschäftsführer kann zum Beispiel ein Zwei-Mann-Büro leiten und selbst aktiv mitarbeiten oder eine Firma mit 500 Personen führen und hauptsächlich Schreibtischarbeiten erledigen.“ Barna sieht durch diese Angaben „eine besonders individuelle und risikogerechte Tarifierung“ garantiert.  

Beim bisherigen Berufsgruppenmodell werden gleiche Berufe, die jedoch unterschiedliche Bezeichnungen haben, oft nicht gleich eingeordnet.  

Philip Wenzel: „Das Problem ist, dass ein Kindergärtner, den es als Berufsbezeichnung seit den 60er-Jahren nicht mehr gibt, auch mal günstiger eingestuft ist als der Kindererzieher und erst recht als der Kinderpfleger.“ 

Insgesamt ist Scoring ein Beitrag für mehr Gerechtigkeit in der BU-Versicherung – und ein Schritt, um die bisherige Einteilung in Berufsgruppen flexibler zu gestalten und damit den Veränderungen in der Arbeitswelt gerecht zu werden.

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