Gewerbe-Norm: „Die Gefahr ist groß, dass der DIN-Standard als Werbe-Gag missbraucht wird“
Beratern steht in diesem Jahr die nächste Normierung ins Haus: Die DIN-77235 hat zum Ziel, mittels systematischer und umfassender Risikoanalyse eine professionelle Finanzberatung von Gewerbetreibenden und KMU zu fördern. Kann das gelingen? procontra hat den auf Gewerbe spezialisierten Versicherungsmakler Achim Finke nach seiner Einschätzung gefragt.
procontra: Schon in diesem Jahr soll die neue DIN-Norm 77235 insbesondere für die Risikoanalyse im Gewerbebereich eingeführt werden. Eine sinnvolle Einrichtung?
Achim Finke: Die Normierung kommt ursprünglich aus der Technik und wurde eingeführt, um sicher zu gehen, dass beispielsweise Bauteile, Materialien und Bezugsgrößen vorgegebene Anforderungen erfüllen, damit sie vergleichbar berechenbar sind. Eine DIN-Norm im Finanzdienstleistungsbereich ist mir grundsätzlich suspekt, immerhin kommt es dabei auf individuelle Beratung und individuelle Gegebenheiten an. Das gilt insbesondere für den sehr komplexen Gewerbereich: Jeder Betrieb funktioniert individuell, Vergleichbarkeit ist hier kaum gegeben, weder in Voraussetzungen noch in Ansprüchen. Eine Norm suggeriert nun aber: Wenn wir zehn Vermittler in einen Betrieb schicken, müssten sie idealerweise alle zum selben Beratungsergebnis kommen. Aber dem ist natürlich nicht so und das muss auch nicht sein.
procontra: Dennoch besteht die Hoffnung, dass die Norm mehr Orientierung bietet.
Finke: Das funktioniert so aber nicht. Nehmen Sie die klassischen Fragebögen der Versicherungsgesellschaften, die schon an sich sehr unterschiedlich sind. Der Vermittler geht mit diesem Katalog in den Betrieb und fragt die verschiedenen Risiken ab. Eine Norm kann in dem Bereich nur ein Grundgerüst sein, das ein grobes Raster hervorbringt. Das Problem: Wer sich strikt an die vorgegebenen Fragen hält, dem wird in der Regel vieles entgehen, weil sie Spezifika nicht abdecken.
procontra: Zum Beispiel?
Finke: Ein Makler berät eine Firma, die als Schlosserei firmiert. Er geht nun davon aus, dass es sich um einen klassischen Schlossereibetrieb handelt und unterbreitet ein entsprechendes Versicherungsangebot. Hätte er aber genauer nachgefragt, hätte er mitbekommen, dass der Betrieb auch Maschinenwartung, Montage und Ersatzteilherstellung anbietet, es sich also um ein Mischgewerbe mit völlig anderen Bedarfen handelt. Es gibt hunderte solcher Beispiele. Auch ob die bezogenen Materialien und Produkte aus dem europäischen Raum kommen, ist für die Produkthaftung entscheidend.
procontra: Den Entwicklern des neuen Standards geht es darum, die Analyse effizienter zu gestalten. Das wird in Ihren Augen nicht passieren?
Finke: Die Crux ist: Entweder der standardisierte Katalog wäre so umfangreich, dass er ineffizient und unpraktikabel ist. Oder er ist praktikabel, dann aber extrem lückenhaft. Meine Befürchtung ist, dass durch eine DIN-Norm noch mehr Laien in das Gewerbegeschäft einsteigen, weil sie davon ausgehen, dass sie das hinbekommen, wenn sie nur dem Standard folgen. Der Makler kommt aber nicht darum herum, sich Expertise aufzubauen.
procontra: Nun sind Sie selbst Maschinenbauer – damit aber eher eine Ausnahme unter den Vermittlern. Nicht jeder bringt eine solche Ausbildung mit.
Finke: Ich muss den Betrieb verstehen, um als Risikoanalyst zu agieren. Ein Persilschein reicht nicht aus für die Beratung zu Gewerbeversicherungen. Es bräuchte zuerst einmal eine fachliche Ausbildung. Zwei, drei Tage reichen nicht, um sich auf dieses Geschäft vorzubereiten. Es erfordert fundiertes Wissen – nicht nur zu Versicherungsthemen wie Haftpflicht oder technische Versicherungen, sondern auch zu weitergehenden Themen. Obliegenheiten, Sicherheitsvorschriften, vertragliche Risiken – solche Thematiken gehören in die Gesamtbetrachtung. Man kann keine Laien auf Betriebe loslassen, das Risiko ist hoch – auch für den Makler selbst, der leicht in eine Haftungsfalle gerät.
procontra: Wo sehen Sie weitere Fallstricke?
Finke: Ein weiteres Problem besteht in der Freiwilligkeit, wenn es darum geht, die DIN-Norm anzuwenden. Welchen Wert hat ein Standard, der nicht verpflichtend ist? Die Gefahr ist groß, dass der DIN-Standard nur als Werbe-Gag missbraucht wird. Die erste DIN-Norm ist damals aus einem vertrieblichen Ansatz heraus entstanden, um Vermittlern eine Anleitung zu geben, wie sie ihre Beratungsgespräche führen können, aber auch um mit einer „Beratung nach DIN-Norm“ zu werben.